KIEL/NEUMÜNSTER (hin). Vom Fürsorge- zum Teilhabesystem – das hört sich modern und gut an. Laut dem Entwurf für ein neues Teilhabegesetz, auf das sich Union und SPD inzwischen geeinigt haben, sollen sich staatliche Leistungen für behinderte Menschen künftig am persönlichen Bedarf orientieren, der in einem bundeseinheitlichen Verfahren personenbezogen ermittelt wird. Behinderte Menschen sollen mehr eigenes Geld besitzen dürfen, auch wenn sie staatliche Hilfen bekommen, und selbst bestimmen können, wie sie leben und wohnen. Sie sollen insgesamt mehr an der Gesellschaft teilhaben und weniger ausgegrenzt werden – so wie es die UN-Behindertenrechtskonvention vorsieht.
Dass der im Arbeits- und Sozialministerium produzierte 369 Seiten dicke Gesetzesentwurf aber besonders für schwer Beeinträchtigte oder auch für Ersterkrankte gerade das Gegenteil bewirken dürfte und zu mehr Ausgrenzung führen werde und eben nicht den Leitgedanken der Konvention entspricht, fürchten die Gegner des Entwurfs. Der Protest ist inzwischen groß.
„Wir sehen die deutliche Gefahr, dass mit diesem Gesetz die fachlichen Ziele der Eingliederungshilfe und bereits erreichte Standards abgebaut werden“, warnt Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, der über 80 bundesweite Organisationen der Behindertenhilfe und der Gesundheitsselbsthilfe vertritt, deren Hinweise auf Schieflage im Rahmen des Beteiligungsprozesses kaum aufgegriffen worden seien, wie er kritisiert. Der Paritätische Schleswig-Holstein schrieb einen Brandbrief an Ministerpräsident Albig: Er möge helfen, das Gesetz zu stoppen, das die Regierungskoalition noch vor den Wahlen nächstes Jahr umsetzen will und dessen Entwurf der Nord-Paritätische als „hoch problematisch“ bezeichnet. Fritz Bremer – nicht nur Pädagogischer Leiter der Brücke Neumünster, sondern auch Vater einer schwer behinderten Tochter (s. Artikel rechts unten) – kritisiert das Gesetz nicht nur, er fürchtet es. Persönlich und aus gesellschaftspolitischer Sicht. „Wenn dieser Entwurf Gesetz wird, könnte es zur Ausgrenzung verschiedener Gruppen von Menschen mit Behinderungen und deren Angehörigen kommen – vergleichbar mit den Ausgrenzungen infolge der Hartz-Gesetze“, sagt er.
Bremer beunruhigt insbesondere die Unterteilung der betroffenen Menschen in solche, die in der Lage sind, wirtschaftlich verwertbare Arbeit zu leisten und so Anspruch auf Teilhabe bekommen sollen, und den schwer chronisch oder psychisch Erkrankten und/oder schwer geistig oder körperlich eingeschränkten Menschen mit hohem Hilfebedarf – die ihren Anspruch auf Teilhabe verlieren und in den Pflegebereich verwiesen werden können. Die Befürchtung hier: Dass zukünftig vermehrt behinderte oder kranke jüngere Menschen in Pflegeheime „abgeschoben“ werden könnten.
Gesellschaftlich-ethisch würden mit einem solchen System Werte über den Haufen geworfen, die als Selbstverständlichkeit galten. Bevölkerungsgruppen würden im Stich gelassen und abgewertet werden, indem ihnen der Anspruch auf Eingliederungshilfe bzw. Teilhabeleistungen entzogen wird, so Bremer: „In einer Zeit erstarkender rechtspopulistischer und radikaler Haltungen betrachte ich die Tendenz dieses Gesetzes als verheerendes Signal. Mir macht das Angst!“
Ausgrenzung droht nach Einschätzung der Experten auch psychisch Ersterkrankten, soll doch die bisherige Aufgabe der Eingliederungshilfe („eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern oder sie so weit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen“) auf die medizinische Rehabilitation beschränkt werden. Damit, so die Sorge, könnten Hilfen der Gemeindepsychiatrie beschnitten werden und den Menschen Chronifizierungen drohen. Grundsätzlich sollen Pflegehilfen Vorrang vor Teilhabeleistungen haben. Der Paritätische fürchtet insgesamt Leistungsverschlechterungen – auch durch im Entwurf enthaltene Möglichkeiten von Vergütungsabsenkungen. Der Verdacht ist, dass das Ziel, per Gesetz eine Kostenbremse bei den stetig ansteigenden Eingliederungshilfekosten einzuziehen, die Oberhand gewonnen hat.
Es gibt viele weitere Einzelpunkte, die die verschiedenen Verbände aufführen. Die DGPPN fordert eine Reihe grundlegender Anpassungen und Nachbesserungen, damit die Bedürfnisse psychisch kranker Menschen besser berücksichtigt werden. Der Paritätische Schleswig-Holstein regt an, die Reform zu teilen und zunächst die positiven Ansätze umzusetzen, die im Bereich Arbeit durchweg hervorgehoben werden (zum Beispiel das „Budget für Arbeit“, über das Arbeitgeber einen Teil des Gehaltes erhalten können, wenn sie jemanden mit Behinderung einstellen, mehr Mitwirkungsmöglichkeiten in Werkstätten etc.). Die grundlegende Reform sollte nach seiner Auffassung auf die Zeit nach der Wahl vertagt werden.
Dr. Ulrich Schneider appellierte in einem Brief an Ministerin Andrea Nahles, dafür Sorge zu tragen, dass ein Teilhabegesetz auf den Weg gebracht wird, das dem Grundsatz der UN-Behindertenrechtskonvention entspricht und insbesondere Menschen mit hohem Unter-
stützungsbedarf vor Verschlechterungen schützt: „Diesen Erwartungen wird der vorliegende Entwurf nicht gerecht.“