Der Film „Nebel im August“bringt auf die Leinwand, was bisher kaum verfilmbar schien: Es ist die real-fiktive Verfilmung der Geschichte des Ernst Lossa, eines 13 Jahre alten Jungen, der 1942 als „nicht erziehbar“ wegen seiner rebellischen Art in eine Nervenheilanstalt abgeschoben wurde. In 138 Minuten wird sein Leben dort und das der anderen Insassen auf sehr authentische Art und Weise nachgezeichnet. Leben, das als nicht lebenswert der NS-„Euthanasie“ (wörtlich: der gute Tod) zum Opfer fiel, dem Massenmord der Nationalsozialisten und ihrer willfährigen Ärzte und Pflegerinnen an insgesamt mehr als 200.000 Menschen.
All diesen Opfern setzt „Nebel im August“ ein würdiges, ergreifendes Denkmal, das zugleich viele in die Gegenwart und Zukunft reichende Fragen aufwirft. Inspiration für die Figuren im Film waren die handelnden Personen der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren/Irsee, wo in den 1940er Jahren mehr als 2000 Insassen ermordet wurden und dessen damaliger Klinikleiter die Hungerkost „erfunden“ hat. Die Geschichte von Ernst Lossa wurde einst unter Leitung von Prof. Michael von Cranach in den Archiven wiederentdeckt. Jetzt fungierte der frühere Leiter des heutigen Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren, der sich viele Verdienste um die Aufarbeitung der „Euthanasie“-Geschichte erworben hat, als historischer und medizinischer Berater für „Nebel im August“.
Es ist der Blick des Jungen, der einen nicht loslässt und der wohl zur tatsächlichen Umsetzung des Films mit beigetragen hat. Als er vor acht Jahren das Buch „Nebel im August“ von Robert Domes zugeschickt bekam, sei er sofort fasziniert gewesen „von diesem Ernst Lossa – und ganz besonders von seinem Foto. Es hat mich seither verfolgt“, so der Produzent Ulrich Limmer über die Motivation für den Dreh, der „der schwierigste und teuerste“ Film seiner Firma werden sollte. Die Geschichte, die gezeigt wird, basiert auf Ernst Lossa als realer Person. Je nach den vorhandenen Informationen und der dramaturgischen Notwendigkeit wurde Fiktion hinzugefügt.
Als Ernst Lossa vier war, starb seine Mutter. Sein Vater, Angehöriger der „Jenischen“, eines fahrenden Wandervolks, stirbt später im KZ.
Ernst wird zu einem Heimkind. Als Psychopath abgestempelt, landet er schließlich in der „Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren“. Aus historischen Schilderungen von Krankenhausmitarbeitern geht hervor, dass alle Ernst Lossa geschätzt haben trotz mancher Schwierigkeiten im Verhalten. Er sei liebenswürdig und hilfsbereit gewesen. Immer wieder wird erzählt, dass er über die Tötungen in der Klinik gewusst habe und des öfteren versucht habe, den hungernden Kranken Nahrungsmittel zu geben, die er in den Vorratskammern stahl. Der reale Ernst Lossa wurde am 9. August 1944 mit einer Spritze „euthanisiert“, wie es in seiner Krankengeschichte hieß. Im Film verliebt er sich, in „Nandl“, will mit ihr fliehen. Es kommt anders.
„Die Hauptschwierigkeit war, diese Geschichte ohne Beschönigung und wahrhaftig zu erzählen, ohne den Zuschauer in Verzweiflung zu stürzen“, so Produzent Ulrich Limmer. Das gelingt tatsächlich auf besonders herzergreifende poetische Art, die symbolisiert: Die Ideen von Freiheit, Unabhängigkeit und Würde, für die Ernst Lossa, gespielt von Ivo Pietzcker, steht, werden ihn überleben.
Sein Gegenspieler ist die Filmfigur Dr. Walter Veithausen (Sebastian Koch), der Leiter der Anstalt (der in der Realität später zwar verurteilt wurde, seine Haft aber nie antreten musste, sogar Rente erhielt). Ein Überzeugungstäter mit therapeutischem Ehrgeiz, er wirkt nett. Eben noch spielt er liebevoll mit den Kindern, im nächsten Moment erteilt er den Auftrag zu deren Ermordung. Dass er äußerlich so sympathisch gezeichnet wird, unterstreicht das Grauen angesichts einer massenmordenden Ärzteschaft. Und so ist es auch mit der Pflegerin, die den tödlichen Himbeersaft einflößt – ein eiskalter, wunderschöner Todesengel … Viele weitere Aspekte sind geschickt eingewebt in dieses großartige Drama, die fragwürdige Rolle des Vatikans etwa.
Die Filmbewertungsstelle (FBW) hat dem Film bereits – einstimmig – das Prädikat sehr wertvoll verliehen. Regisseur Kai Wessel hat den Bayerischen Filmpreis für die beste Regie und den Friedenspreis des Deutschen Films erhalten. Auch für ihn ist der Film ein Herzensprojekt: „Als ich das Buch angeboten bekam, war mein erster Gedanke: Das geht nicht, das will doch auch keiner gucken. Dann habe ich das Buch gelesen. Ich war tief berührt und fand, dass es unglaublich wichtig ist, dass der Film gemacht wird und das die Stimmen ohne Lobby Gehör finden“, so Wessel im Rahmen eines Lehrer-Sonderscreenings in Hamburg. „Es ist eine wundervolle Aufgabe, sich dafür einzusetzen. Ich hoffe, der Film dient als Anregung zum Weiterdenken: Wie leben wir heute? Gibt es im Zusammenhang mit dem Film Themen, die unser Leben heute noch beeinflussen? Etwa die Frage nach lebenswertem Leben und die Diskussionen um Sterbehilfe sowie um pränatale Diagnostik“. Die Idee des Films, so Kai Wessel an anderer Stelle, „war eine Ode an die Vielfalt des Lebens“. Anke Hinrichs
Inklusive Dreharbeiten
Die Dreharbeiten fanden ab 6. Mai 2015 an 40 Drehtagen in der LWL-Klinik Warstein (Nordrhein-Westfalen), im nahegelegenen Kloster Mülheim, im österreichischen Schwarzenau und in Bayern statt. Als Statisten dabei: viele behinderte Menschen, die Patienten der Heil- und Pflegeanstalt darstellen. „Wir haben Kinder auf spezielle Tics wie Stottern gecastet. Auch Kinder mit Down-Syndrom und solche mit schweren geistigen oder körperlichen Behinderungen mit ihren jeweiligen Betreuern waren dabei“, so Kai Wessel bei einem Sonderscreening in Hamburg. „Wir haben für psychologische Betreuung gesorgt. Die war eigentlich viel wichtiger für die Eltern.“ Weitere Kleindarsteller wurden gezielt gecoacht, um spezielle Krankheiten und Erscheinungsformen wie z.B. Autismus authentisch darzustellen. Die Dreharbeiten seien gut für alle Seiten gewesen und „eine große Bereicherung“. „Ich bin sicher, dass die Zuschauer nicht unterscheiden können, welcher der Darsteller behindert ist und welcher nicht“, so Wessel. Bei einem Film über das Schicksal von Menschen mit Behinderungen gehöre es dazu, auch solche zu beteiligen. (hin)
Originalveröffentlichung: EPPENDORFER 9/2016