Vom Umgang mit Muslimen

Malika Laabdallaoui kam als Zwölfjährige aus Marokko nach Deutschland, wo sie Psychologie studierte. Heute ist sie als Psychologische Psychotherapeutin mit ihrem Mann zusammen niedergelassen und u.a. als Referentin im Centrum für Migration und Bildung e.V. Mainz (CMB) tätig. Foto: cmb-Mainz

Geht es um den Islam, ist viel Halbwissen und Vorurteil im Spiel – das gilt in Teilen auch für den psychosozialen Bereich und die Psychiatrie. Zugleich ist gerade hier die Akzeptanz der islamischen Lebensweise besonders wichtig, um den erkrankten Menschen adäquat zu helfen – zumal Migranten in der Fremde besonders am Eigenen und eben auch an religiösen Riten festhalten und ihnen Religion, gerade auch in einer Krankheit, eine sinnstiftende Struktur geben kann. „Es geht darum, wie sonst in der Psychiatrie auch, die Menschen in ihrer Welt abzuholen“, macht der Psychiater und Psychotherapeut Dr. Ibrahim Rüschoff deutlich. Wichtige Aspekte für den Umgang mit muslimischen Patienten haben er und die Psychotherapeutin Malika Laabdallaoui in einem jüngst überarbeiteten und aktualisierten „Basiswissen“ zusammengetragen. Im folgenden werden ein paar grundlegende Eckpunkte aufgegriffen.

Die rund vier Millionen Muslime in Deutschland stammen aus rund 40 Ländern mit einer Vielzahl kultureller Ausprägungen. Vorherrschend (80 Prozent) ist die sunnitische Glaubensrichtung. Eine Untersuchung der Bertelsmann Stiftung ergab: 90 Prozent der Muslime über 18 sind als religiös einzustufen. 86 Prozent essen kein Schweinefleisch, 58 Prozent trinken keinen Alkohol, rund 70 Prozent verrichten fünf Mal täglich ihre Ritualgebete. Der Koran gilt als direktes Wort Gottes an die Menschen. Die sog. Sunna beinhaltet Aussprüche und Handlungen des Propheten Muhammad. Tod, Krankheit und Leiden werden im Islam vor allem als Prüfung auf dem Weg zu Gott verstanden. Eine große Hilfe in Krisen ist die Aussage im Koran, dass Gott keiner Seele mehr aufbürdet als sie zu tragen vermag. Krankheit wird auch nicht als Strafe für eine bestimmte Handlung verstanden. Und, wichtiger Tipp für den Fall von Spannungen zwischen Muslimen: Der Islam werde als „gerader Weg“ verstanden, „der breit genug ist für eine Vielfalt von Auffassungen, die als muslimisch gelebt werden können“.

REGELN

Es gibt eine gewisse religiöse Etikette, deren Wahrung besonders in der ersten Zeit der Behandlung wichtig ist, um Vertrauen aufzubauen, da sie den Patienten einen Schutzraum biete. Dazu gehören z.B.: Respekt gegenüber Älteren, Vermeiden von Körperkontakt (Händeschütteln des anderen Geschlechts), angemessene Kleidung, Haarbedeckung bei Frauen. Vor vorschneller Einflussnahme wird gewarnt: Helfer müssten darauf achten, den religiösen Werten und Normen mit Respekt und Wertschätzung zu begegnen. Einer Patientin zu raten, das Kopftuch abzunehmen, da sie dadurch unterdrückt werde, wäre nicht nur sachlich falsch. Sie werde dies als Angriff auf ihre Persönlichkeit werten und evtl. den Kontakt abbrechen. Zu bedenken ist auch, dass muslimische Patienten oft große Skrupel haben, über ihre Eltern oder Ehepartner zu sprechen, besonders wenn es um negative Dinge geht. Bei Hausbesuchen ist zu beachten, dass das Zusammensein zweier fremder Personen in einem abgeschlossenen Raum ohne eine dritte Person unschicklich ist.

RITEN

Der Islam beeinflusst den gesamten Tagesablauf. Vor den Gebeten stehen rituelle Waschungen an, für den Toilettengang stellen Kliniken oft eine kleine Kanne bereit. Für die Gebete benötigen die Patienten kleine Teppiche oder ähnliches. Das Gemeinschaftsgebet am Freitag ist nur für Männer Pflicht. Manche Kliniken mit einer großen Anzahl muslimischer Patienten stellen Shuttlebusse zur Verfügung. Das Thema Küche hält Dr. Rüschoff für vergleichsweise unproblematisch, da heute überall vegetarische Speisen angeboten werden. Fasten im Ramadan ist ein großes Thema. Zwar sind psychisch schwer Kranke vom Fasten befreit. Doch sollte man z.B. mit schwer depressiven Patienten, die zu einem schlechten Gewissen neigen, wenn sie nicht fasten, darüber sprechen. Besonders problematisch und untersagt ist Fasten natürlich bei Essstörungen. KULTUR & RELIGION Oft werde dem Islam zugeschrieben, was nicht auf der Religion, sondern auf patriarchalen Strukturen basiert, und nicht immer sind krankhafte Symptome und religiös bedingte Verhaltensweisen klar zu trennen. Um einseitige Zuschreibungen zu vermeiden, empfehlen die Autoren Fallanalysen, mit Hilfe derer ein Problem aus verschiedenen Perspektiven – der religiösen, der sozialen, der kulturellen und der medizinisch-psychologischen – betrachtet wird. Nicht immer seien therapeutische Maßnahmen möglich – psychiatrische Helfer müssten lernen, „auch mit offenen Situationen zu leben“. GEWALT Rüschoff und Laabdallaoui nennen Erhebungen, wonach etwa jede siebte Frau deutscher Herkunft, jede sechste aus Ländern der ehemaligen UdSSR und jede dritte oder vierte türkischer Herkunft mindestens einmal körperliche und/oder sexuelle Übergriffe durch den Beziehungspartner erlebt hat. Doch: „Der Prophet, der unser Vorbild ist, hat nie eine Frau oder ein Kind geschlagen“, verneint Ibrahim Rüschoff einen begründbaren religiösen Hintergrund. Gewalt sei eher ein kulturelles Phänomen. Im Orient diene Gewalt – „wie auch hier noch vor 50 Jahren üblich“ – zur „Wiederherstellung der Ordnung“ und sei somit begrenzt und „bearbeitbar“. Anders sehe es bei sexueller Gewalt oder Schlagen im Rahmen einer gestörten Persönlichkeit aus. „Wenn Beziehungen stabil sind, hat gesellschaftlich akzeptierte Gewalt einen anderen Stellenwert als in zerrütteten Familien“. An ihre Grenzen geraten Teams und Therapeuten, wenn eine echte Zwangsverheiratung droht oder massive Gewalt Schutz erfordert, dort geht der Schutz der Patienten vor. Entscheidend sei aber auch hier, Schubladendenken zu vermeiden und wenn möglich eine Lösung innerhalb des religiösen oder familiären Bezugsrahmens zu suchen, etwa über Gespräche mit Angehörigen oder Einschaltung eines Hodscha. Hilfreich sei ggf. auch die Maßgabe, dass sich Muslime von ihrer Religion her an die Gesetze des Landes halten müssen, in dem sie leben, und jede Gewalt hier verboten ist.

EHE, SEXUALITÄT & FAMILIE

Sexualität ist dem Menschen laut Islam auch zum Genuss gegeben und dient nicht allein der Fortpflanzung. Dennoch ist das Thema stark tabuisiert. Einst entstanden zwecks Versorgung von Kriegerwitwen, erlaubt der Islam die auf vier Frauen beschränkte Polygamie, die strengen Regeln unterworfen und somit „theoretisch erlaubt, aber praktisch verboten“ und unter Muslimen kaum ein Thema ist, so Rüschoff. Männer regeln außereheliche Verhältnisse manchmal dadurch, dass sie eine Geliebte als zweite Frau nach islamischem Recht „heiraten“, was die meisten Moscheen aber ablehnen. Insgesamt seien Familienkonflikte durch die große Nähe der Beteiligten besonders heftig. Ein Vorurteil ist die Annahme, dass in islamischen Familien stets die Väter das Sagen haben: Häufig seien die Mütter die „heimlichen Herrscher“ mit einer engen Bindung zu ihren Söhnen, worunter häufig die Schwiegertöchter leiden. Weiteres Familien-Konfliktthema sind laut Malika Laabdallaoui junge Frauen, die nicht so leben wollen wie ihre Mütter.

DSCHINN, IMAM & HODSCHA

Der Glaube an die Existenz von Dschinnen, ähnlich den Engeln, gehört zum Islam. Ob sie Menschen besitzen können wird sehr unterschiedlich beurteilt. Sie leben in einer Parallelwelt, sind für Menschen aber unsichtbar. Psychische Krankheit wird daher als von außen verursacht und nicht selbst verschuldet verstanden. Die meisten Patienten lassen sich trotzdem medizinisch behandeln und nehmen ggf. Medikamente. Untersuchungen zufolge hatten mindestens die Hälfte aller türkischstämmigen Patienten, die sich einer psychischen Behandlung unterzogen, auch einen Heiler konsultiert (türk. Hodscha, arab. Imam). Die „Therapie“ eines religiösen Heilers besteht in der Regel aus rituellen Koranrezitationen. Es könne therapeutisch sein, einen Hodscha bzw. Imam nicht abzulehnen, ihn vielleicht sogar konstruktiv einzubeziehen, schreiben die Autoren.

INTERKULTURELLE KOMPETENZ

Interkulturelle Kompetenz beinhaltet eine innere Haltung. Besonders wichtig im Umgang mit muslimischen Patienten sei die eigene Standortbestimmung, um den anderen so lassen zu können, wie er ist, so die Autoren. Beispiel: Vermeidet jemand einen Handschlag im Rahmen einer Zwangserkrankung, hat das mit dem Helfer wenig zu tun, vermeidet der Patient dies aus religiösen Gründen, ist der Helfer als Mann oder Frau gemeint. Um dies nicht als Bedrohung zu empfinden, brauche es einen eigenen sicheren Standpunkt.                A.Hinrichs 

Malika Laabdallaoui, S. Ibrahim Rüschoff: „Basiswissen: Umgang mit muslimischen Patienten“, 160 Seiten, ISBN: 978-3-88414-659-0, Köln: Psychiatrie-Verlag, 2., überarbeitete Auflage 2017, 17,95 Euro s.a.: Malika Laabdallaoui und Ibrahim Rüschoff: „Ratgeber für Muslime bei psychischen und psychosozialen Krisen“, 280 S., Edition Bukhara, ISBN: 978-3-941910-00-3, 14,90 Euro, Mössingen 2009.