Viel Zwang in Schleswig-Holstein – Aber keiner weiß warum …

KIEL (est). Die Berliner Selbsthilfegruppe Bipolaris hat ausgewertet, wie viele Zwangseinweisungen es gibt. Demnach gehören im Bundesvergleich Schleswig-Holstein und Hamburg neben Bayern zu den Ländern mit besonders hohen Zahlen. Eindeutige Erklärungen fehlen.

Sind die vielen Heime schuld? Die demografische Zusammensetzung der Bevölkerung? Es fehlt nur noch, dass Frank Lindscheid, Sprecher des Kieler Sozialministeriums, das schlechte Wetter im Norden als Grund für ein seltsames Phänomen benennt: Laut einer Statistik werden in Schleswig-Holstein besonders viele Menschen zwangsweise eingewiesen oder unter Betreuung gestellt. Von einer Million Einwohner sind über 4000 betroffen, also pro Jahr mehr als 10.000 Menschen von den 2,8 Millionen Schleswig-Holsteinern. Nur ein Land steht noch deutlich darüber – Bayern, wo von einer Million Menschen fast 5000 gegen ihren Willen eingewiesen oder unter Betreuungsrecht gestellt werden. Der Bundesschnitt liegt bei knapp 3000 Eingewiesenen pro eine Million.

Während aber in Bayern der überwiegende Teil der von Zwangsmaßnahmen Betroffenen unter Betreuungsrecht gestellt wird, in der Regel wegen einer Demenz, ist in Schleswig-Holstein der Wert der Einweisungen nach dem Psychiatrie-Gesetz auffallend. Er ist mit 2135 Personen pro einer Million Einwohner mehr als doppelt so hoch wie der Bundesschnitt. Nur Bremen übertrifft das noch, hier sind es 2351 Zwangseinweisungen – im kleinen Stadtstaat leben aber nur rund 550.000 Menschen, sodass der Wert pro eine Million errechnet, nicht gezählt ist und Verzerrungen möglich sind.

Die Zahlen wurden von der Berliner Selbsthilfegruppe Bipolaris zusammengetragen. Als Quellen werden Zahlen des Bundesamtes für Justiz, die Sozialministerien der Länder, das statistische Bundesamt sowie überörtliche Betreuungsbehörden genannt. In Schleswig-Holstein stoßen die Werte nicht auf Zweifel, nur mit der Erklärung tun sich das Ministerium, die Politik wie auch Psychiatrieerfahrene schwer. Nur eine Reihe von Thesen gibt es.

Die erste These lautet, dass Schleswig-Holstein anders zähle als andere Bundesländer – jede Einweisung gilt als ein Fall, auch wenn immer wieder dieselbe Person durch die Klinik-Drehtür ein- und ausgeht. Die zweite These: Schleswig-Holstein, das Land mit den grünen Wiesen und der gesunden Luft, galt lange Zeit als guter Ort, um dort Menschen mit Behinderungen, psychisch Kranke oder Suchtkranke zu betreuen. Zudem ist das Land zwischen den Meeren einer der Altersruhesitze der Republik. Entsprechend ist die Zahl von Heimen oder Spezialeinrichtungen für bestimmte Krankheitsbilder überdurchschnittlich groß. Ein Teil der dort Behandelten bleibt dauerhaft im Land – und wird bei einem erneuten Aufflackern der Krankheit dann auch schnell zwangsweise eingewiesen. Die dritte These stammt von einem ehemaligen Betreuungsrichter: In Schleswig-Holstein würden die rechtlichen Regeln klar eingehalten, es gebe daher selten „halbzwangsweise Unterbringungen“. Gemeint sind Fälle, in denen die Klinik dem Patienten droht: „Entweder Du bleibst, oder ich hole den Richter“. So etwas komme im Land seltener vor.

So oder so: „Die Statistik ist Wasser auf unsere Mühlen“, sagen Thomas Bartels und Christian Sach, beide in verschiedenen Gremien als Psychiatrieerfahrene aktiv. Die Zahl der Zwangsunterbringungen sei „erschreckend hoch, es besteht absoluter Handlungsbedarf“. Um die Einweisungen zu vermeiden, sei ein Ausbau der ambulanten Sozialpsychiatrie und der verstärkte Blick auf die Prophylaxe nötig: „Das Kind muss nicht immer erst in den Brunnen fallen.“

Vielleicht ändert sich bereits etwas. Schließlich gibt es zum Beispiel im Kreis Dithmarschen ein Psychiatrie-Budget, das auf deutlich mehr ambulante Hilfen denn auf Klinik-Aufent-
halte setzt. Und, so lautet These Nummer vier, aufgrund solcher Modelle werde nicht mehr, sondern deutlich weniger eingewiesen als noch vor ein paar Jahren.