Über die Zerlegung des Herzens

Konfuzius war ein chinesischer Philosoph zur Zeit der Östlichen Zhou-Dynastie. Er lebte vermutlich von 551 v. Chr. bis 479 v. Chr.. Foto: Pixabay

…und den Verlust des Gesichtes *

Die Psychoanalytikerin Antje Haag und ihr Bericht über die „moderne Seele Chinas“

Was können wir von einem anderen Menschen wissen? Was von ihm verstehen? Und welche Fragen, welche Techniken, welche Methoden könnten geeignet sein, sich seinem Innern, seiner Seele anzunähern, sie wahrzunehmen und zu verstehen? „Einem anderen Menschen zu begegnen heißt, von einem Rätsel wachgehalten zu werden“, sagt der französisch-litauische Philosoph Emmanuel Levinas. Antje Haag – große Dame der Psychoanalyse und lange Jahre in der Psychosomatik des UKE Hamburg als lehrende, forschende und schreibende Analytikerin tätig – begann in den späten Achtzigern ein kühnes Experiment. Eingebunden in eine Gruppe von Kolleginnen, reiste sie über zwanzig Jahre lang immer wieder nach China, um dort ihr psychoanalytisches Wissen an chinesische Psychiaterinnen und Psychologen weiterzuver- mitteln. Ob und wie das möglich war, davon handelt ihr Text.

2011 erschien ihr Bericht, den sie – und hier sind wir schon mitten im Thema – mit aller Zurückhaltung und Vorsicht einen „Versuch über die moderne Seele Chinas – Eindrücke einer Psychoanalytikerin“ nennt. Der Titel allein machte mir Lust, mich dem Text zuzuwenden, weil hier nicht jemand spricht, der glaubt zu wissen, sondern der sich dem Thema und damit den Seelen der Menschen – eben wie einem Rätsel – fragend und neugierig nähert. Zunächst befasst sich die Autorin mit den „kulturspezifischen Besonderheiten“ Chinas – ohne den Anspruch, sich aus der eigenen kulturellen (westlichen) Perspektive lösen zu müssen bzw. zu können. Einen wichtigen Aspekt hierin bildet der Begriff der Grenze, des Innen und des Außen, das sich hier – in der chinesischen Kultur – nie auf das eigene Selbst (das Individuum), sondern immer auf ein Größeres, auf die Familie, auf die Gruppe, das Kollektiv bezieht. Hier wirkt bis heute das konfuzianische und später – seit der Kulturrevolution – das kollektivistische Denken weiter, in dem der Begriff der Harmonie eine große Rolle spielt: Verhalte ich mich korrekt, ist die Familie in Harmonie, wenn Familien in Harmonie sind, ist es auch das Dorf. Sind Dörfer in Harmonie, ist es auch die Provinz. Sind Provinzen in Harmonie, dann ist es auch das ganze Reich. Sind Reiche in Harmonie, dann ist es auch der Kosmos.

In diesem Sinne ist die „Aufrechterhaltung von Harmonie in der sozialen Ordnung unter Hintanstellung eigener Wünsche das wichtigste Ziel einer konfuzianisch geprägten Erziehung“. Was dies für die Ausbildung psychischer Strukturen bedeutet, bringt Haag auf den Punkt: „Dem westlichen Individuum als ,ungeteiltem Wesen’ steht das geteilte östliche ,Dividuum’ mit seinem interdependenten Selbst gegenüber, das sich weitgehend über seine zwischenmenschlichen Beziehungen definiert“. Und weiter schreibt Haag: „Für mich war diese unterschiedliche Umgangskultur (…) immer wieder verwirrend. Gehörte ich dazu, konnte ich mir keine herzlichere und großzügigere Behandlung vorstellen, war ich die Unbekannte und sichtbar Fremde, so konnte ich nur äußerst selten auf Unterstützung rechnen“. (S. 35) Wie aber wird dieser in gewisser Weise „Verzicht“ auf das eigene Selbst, die eigenen Interessen, die eigene Autonomie zugunsten des Kollektivs erreicht? Ein – oder vielleicht DAS entscheidende Werkzeug ist in der chinesischen Kultur bis heute die Sanktion durch Beschämung und der aus ihr resultierende Gesichtsverlust. Wer aus der Norm fällt beziehungsweise von dieser abweicht, läuft Gefahr, zurückgewiesen, ausgegrenzt, an den Pranger gestellt zu werden (in Zeiten der politischen Umstürze mussten Nonkonformisten sogenannte spitze und damit weit sichtbare „Schandhüte“ tragen ebenso wie Schilder um den Hals, auf denen ihre Vergehen benannt wurden – S. 43).

Das Entscheidende aber ist, dass die Scham und der Gesichtsverlust niemals nur dem einzelnen gilt, sondern immer der gesamten Gruppe, der er angehört. Haag dazu: „So bin ich während meiner Tätigkeit in China von meinen Freunden und Kollegen nicht selten Unbekannten gegenüber mit übertriebenen schmeichelhaften Titeln und Verdiensten vorgestellt worden. Offensichtlich geschah dies, um mein Gesicht zu verbessern – und gleichzeitig auch das der Kollegen, denen ich die „Ehre“ gegeben hatte. Hätte ich mich gegen diese Elogen gewehrt und sie korrigiert, hätte das zu einem Gesichtsverlust meiner Gastgeber geführt“ – (S. 45). Es ist schwer vorstellbar, wie die in diesem Sinne geprägte chinesische Seele in Beziehung oder gar in Einklang zu bringen ist mit dem psychoanalytischen Blick, der sich eben nicht auf das Außen, nicht auf Gesellschaft, Gruppe und Familie richtet, sondern den Fokus ganz und gar auf das Individuum und das spezifische Geworden-Sein seiner Persönlichkeit legt. Dieses Argument betrifft die grundlegende Frage, inwieweit transkulturelle Analysen möglich und denkbar sind. Haag zitiert hier den Kollegen Kris, der es ablehnte, Analysen mit Menschen aus dem asiatischen Raum zu machen: „Ich kenne das Ich dieser Leute nicht“, so Kris. Devereux unterstrich diese kritische Haltung mit dem Argument des „ethnischen Unbewussten“, das ein Individuum mit der Mehrzahl der Mitglieder seiner Ethnie gemein habe. (Ja und? könnte man fragen, muss ich mein Gegenüber kennen, muss ich es von vornherein verstehen, um therapeutisch wirksam werden zu können? Oder könnte die therapeutische Wirkung nicht auch und gerade darin bestehen, dass ich diese geforderte Voraussetzung der Therapie zu ihrem Ziel erkläre?). Trotz dieser durchaus nicht von der Hand zu weisenden Bedenken und Vorbehalte hat Haag sich der Herausforderung gestellt und lehrend und forschend untersucht, welchen heilenden Nutzen die psychoanalytische Therapie auch in der dem westlichen Denken so fremden chinesischen Kultur haben könnte. Haag gelingt es in beeindruckender Weise, die wichtigsten Problempunkte, die diesem Unterfangen innewohnen, prägnant und – selbst dem der Psychoanalyse fernen Leser – sehr verständlich darzulegen.

Die Unterschiede zwischen westlichem Denken und chinesischem Denken sind groß (s. „Über die Zerlegung des Herzens …“ auf Seite 3). Das hat entsprechend Einfluss auf die Psychotherapie, speziell die Psychoanalyse. Die Kernpunkte der psychoanalytischen Therapie liegen – so Haag – v.a. in der zu wahrenden Abstinenz und Distanz zwischen Therapeut und Patient (so ist es z.B. ein NoGo, Angehörige von Patienten in Therapie zu nehmen. In China wird eine solche Abgrenzung jedoch schnell als nicht zu verstehende Zurückweisung und damit als Kränkung erlebt). Ebenso ist die Fähigkeit und Bereitschaft zur Introspektion eine unabdingbare Voraussetzung für eine psychoanalytische Therapie. Selbstreflexivität und Introspektion sind jedoch dem chinesischen Denken fremd (man fragt nicht: „Wie geht es dir?“ sondern: „Hast du gut gegessen?“). Eine eindeutige Antwort auf die Frage, ob die Psychoanalyse in China eine wirkliche Chance hat in dem Sinne, dass sie als therapeutisches Verfahren breite Anerkennung gewinnen könnte, gibt es bisher wohl eher nicht.

In ihren langjährigen Erfahrungen, die Haag in ihren unterschiedlichen Rollen in China machte (als die selbst Fremde, als Lehrende und als Supervisorin) stieß sie immer wieder auf viel Fremdheit, die ihr – psychoanalytisch gesprochen – als kulturell begründeter Widerstand entgegentrat und an dem sie immer wieder auch scheitern musste. Es gab aber auch, so Haag, „Kollegen, mit denen ich einfacher und produktiver arbeiten konnte. Sie waren interessiert, offen und dankbar dafür, dass sie die Gelegenheit hatten, nie ausgesprochene – oft auch nicht erkannte – und unbewusste Facetten ihres Daseins mit mir zu erarbeiten“. Diese neuen Erfahrungen und Erkenntnisse waren dann „ebenso bewegend wie befreiend“. Ganz am Ende des Buches, in ihrem „Persönlichen Rückblick“, versucht Haag das östliche und westliche Denken quasi zusammenzubinden und aus dem scheinbaren Entweder-oder herauszulösen. „Das Dilemma in unserer modernen Welt ist wahrscheinlich, dass beide Perspektiven, die westliche und die östliche, einseitig sind: Der Westen stellt das Wohl des Individuums in den Mittelpunkt … Der Osten richtet sein Augenmerk auf das Wohl der Gemeinschaft und vernachlässigt die Rechte und Interessen des Einzelnen. Ob es möglich ist, Wege zu finden, die der menschlichen Seele zugänglicher sind als nur mit der einen oder anderen Gangart, wird sich in Zukunft zeigen“. Genau hierüber – nämlich die Verbindung unterschiedlicher „Gangarten“ – kann man etwas erfahren und lernen, wenn man Haags „Versuch über die moderne Seele Chinas“ liest. Der Modus, in dem der Text verfasst ist, öffnet einen weiten Raum: In ihm scheint die Möglichkeit auf, dass es vielleicht anstelle des Entweder-oder von Autonomie und Abhängigkeit doch ein Sowohl-als-auch geben könnte. Martina de Ridder Antje Haag: „Versuch über die moderne Seele Chinas – Eindrücke einer Psychoanalytikerin“, Buchreihe: Psyche und Gesellschaft, Verlag: Psychosozial-Verlag, 155 Seiten, Broschur, 2. Aufl. 2012, ISBN-13: 978-3-8379-2147-2.

Martina de Ridder

*Mit dieser Bezeichnung übersetzte der deutschkundige chinesische Philosoph Zhang Shizhao den Begriff „Psychoanalyse“ in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts.

 

Zwischen Freud, Leid und Konfuzius

China im Umbruch: Vom Transfer westlicher Psychotherapieverfahren in eine Kultur im Wandel

China und Psychotherapie? Und wie! In der politik- und globalisierungsbedingt immer näher rückenden Volksrepublik wächst nicht nur der Bedarf an Therapie, im mit rund 1,4 Milliarden Einwohnern bevölkerungsreichsten Staat der Erde ist auch ein enormer Markt für Fortbildungen entstanden. Und ein Ende des Booms ist nicht absehbar in dieser Nation, die sich bis heute im Übergang zwischen Tradition und Moderne befindet. Schon in den 1920er und 1930er Jahren gab es chinesische Intellektuelle, die sich für Freud interessierten und seine Werke ins Chinesische übersetzten und seine Ideen für ihre Auseinandersetzung mit dem Konfuzianismus nutzten. Eine Öffnung für psychotherapeutische Behandlung konnte erst nach der Kultur- revolution ab 1976 einsetzen. Begünstigt durch Faktoren wie: durch Wirtschaftsreformen angestoßener sozialer Wandel, eine gut verdienende Mittelschicht, die in den Städten heranwuchs, während die Freiheit des Einzelnen zunahm. Die Menschen suchten neue Orientierung, nicht nur innerhalb der alten Lebensphilosophien wie denen des Konfuzianismus, sondern auch außerhalb. Auch im klinischen Bereich wehte ein neuer Wind. „Die Psychiatrien wurden – nach dem Auszug der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte – wieder einer fachlichen medizinischen Leitung unterstellt, die Administration blieb in Parteihand“, schrieb Margarete Haß-Wiesegart, Ehrenpräsidentin der Deutsch-Chinesischen Akademie für Psychotherapie DCAP, 2006*. Die Verhaltens- und systemische Paar- und Familientherapeutin lebte von 1976 bis 1978 und 1982/83 als Stipendiatin in Peking. Aus diesen Aufenthalten entwickelte sich eine Zusammenarbeit mit chinesischen Psychologen und Psychiatern.

Zusammen mit der Hamburger Psychoanalytikerin Ann Kathrin Scheerer und einem chinesischen Kollegen organisierte sie 1988 das erste deutsch-chinesische Symposium für Psychotherapie. Kritik und Selbstkritikgruppen sowie Studiengruppen der Werke Maos, an denen die Patienten wie alle Bürger des Landes wöchentlich teilnehmen mussten, wurden im Zuge der Liberalisierung abgeschafft. In der Kulturrevolution gedemütigte Professoren, Lehrer und Psych- iater sollten zwischenzeitlich rehabilitiert werden. Angesichts wachsenden Versorgungsdrucks wurden in den 80ern die psychiatrischen Betten „in den urbanen Zentren um 30.000 erhöht“, so Haß-Wiesegart weiter, 100 neue Kliniken seien gegründet, Ambulanzen ausgebaut, die er- sten Hotlines und Beratungszentren eingerichtet worden. Psychotherapeuten interessierten sich nicht nur für Psycho- analyse, sondern auch für andere Richtungen wie systemische Familientherapie und kognitiv-behaviorale Therapie. Nach Gründung der Akademie DCAP 1996 starteten strukturierte Ausbildungen, die seit 2000 angebunden sind an das Shanghai Mental Health Center. Inzwischen werde Psychotherapie von Politik und Gesellschaft „weitgehend akzeptiert“, so PD Dr. Alf Gerlach und Dr. Wolfgang Merkle in einem Beitrag für die Zeitschrift Dr. med. Mabuse*. Angeboten wird sie ambulant in Kliniken, daneben lassen sich mehr und mehr Therapeuten nieder, und es werde diskutiert, ob Therapie künftig von der Krankenversicherung bezahlt werden solle. 2012 wurde Psychotherapie auch in das neu verabschiedete Mental Health Gesetz integriert. Seit 2000 seien von deutschen Kollegen allein in Shanghai über 1000 Kollegen in psychoanalytisch orientierter Therapie ausgebildet worden. Ähnliche Programme norwegischer und amerikanischer Analytiker gebe es in anderen Städten. Auch etliche universitäre Kontakte haben sich fortentwickelt – mit durchaus auch politischen Folgen. So wurde u.a. eine Studie zur transgenerationalen Weitergabe von Traumata der Kulturrevolution durchgeführt. Öffentliche Abendvorlesungen regen auch gesellschaft- und kulturkritische Auseinandersetzungen an, so die Autoren weiter.

Die Probleme der Menschen spiegeln die Kehrseite einer Gesellschaft im Umbruch. Die Stichworte lauten: Verlust sozialer Identifikation, auch infolge der Schließung riesiger Staatsbetriebe nach der Kulturrevolution, Auflösung traditioneller Familienstrukturen, Ein-Kind-Politik … Margarete Haß-Wiesegart sprach 2006 von einer „Verwestlichung psychischer Probleme in den Städten“. „Blieb die Zahl schizophrener Patienten relativ stabil, so wächst die Offensichtlichkeit depressiver Symptomatik“, so die Therapeutin. Hinzu kämen Probleme mit Alkohol und illegalen Drogen, während kaum Drogentherapie angeboten werde. Auch Zwänge, soziale Ängste und psychosomatische Beschwerden nahmen zu, in den Städten sei ein Anstieg von Essstörungen bei jungen Frauen zu beobachten. Und schließlich: 2006 schrieb Margarete Haß-Wiesegart von etwa 287.000 Suiziden jährlich. „Bei Frauen zwischen 15 und 35 Jahren ist Suizid laut WHO-Bericht an erster Stelle der Todesursachen“. 2016 wurde die Zahl psychisch kranker Chinesen auf circa 100 Millionen geschätzt.                               Anke Hinrichs

*Margarete Haß-Wiesegart: „Psychotherapietransfer nach China – Erfahrungen in einem interkulturellen Experiment“, in: Gerhard Strauß/Michael Geyer: Psychotherapie in Zeiten der Globalisierung, Vandenhoeck & Ruprecht, 2006. Und: Alf Gerlach u. Wolfgang Merkle:„Erfahrungstransfer in einer Umbruchgesellschaft“, in: Dr. med Mabuse 222, Juli/August 2016.