Trendwechsel bei Psychopharmaka?

Die Akteure des Netzwerks „reduzieren und absetzen“: Reinhard Baeßler, Sabine Weber, Helge Thoelen, Uwe Gonther, Jörn Petersen (Moderation), Gerlinde Tobias, Ulrike Flügge (v.l.n.r). Foto: Riehl-Halen

Innerhalb der letzten zehn Jahre hat die Zahl der verschriebenen Psychopharmaka um 60 Prozent zugenommen. * Doch besser geht es den Patienten nicht unbedingt. Manche verspüren keine Wirkung (mehr) oder leiden unter Nebenwirkungen und setzen die Medikamente selbst ab. Einigen gelingt dies, andere erleiden Absetzreaktionen und fallen in schwere Krisen. Die Risiken von Psychopharmaka werden oft unterschätzt und Betroffene mit den Folgen alleingelassen. Das Bremer „Netzwerk reduzieren und absetzen“ setzt sich für ein Umdenken ein und hat eine Vortragsreihe zu dem Thema organisiert. Rund 50 Teilnehmende aus ganz Deutschland kamen kürzlich zur Auftaktveranstaltung ins evangelische Gemeinschaftszentrum Walle.

BREMEN. „Wir vom Netzwerk ‚reduzieren und absetzen’ haben selbst erfahren oder bei anderen erlebt, wie die Einnahme von Medikamenten von allen Impulsen abschirmt und dies zum Hindämmern in einem lebensverneinenden Zustand führt….“, heißt es in der Einladung zur Fortbildungsreihe. Sie richtet sich an Beschäftigte in der Psychiatrie, Patienten mit Medikamentengebrauch (Neuroleptika, Antidepressiva und Tranquilizer) sowie an deren Angehörige aus dem Raum Bremen. Die Fortbildungsreihe zielt darauf ab, das Wissen über Risiken und Chancen der Medikamententherapie, über Möglichkeiten des Reduzierens oder Absetzens im Austausch zu erweitern. Dabei soll auch erörtert werden, wie ein verantwortungsvoller Umgang mit Psychopharmaka in der ambulanten und stationären Behandlung gelingen kann. Dies erklärten die Initiatoren des Netzwerks zu Beginn der Veranstaltung.

Anschließend berichtete Dr. Volkmar Aderhold über den neuesten Stand der Neuroleptika-Forschung. Der Psychiater und Dozent für systemische Therapie setzt sich seit über zehn Jahren kritisch mit der Pharmakotherapie auseinander. Früher habe man üblicherweise 300 Tropfen Haloperidol pro Tag gegeben, heute seien es gerade mal 10, verglich Aderhold. „Es deutet sich ein Trendwechsel in der Therapie an“, glaubt der Mediziner. Heute starte man mit niedrigeren Dosierungen und steigere vorsichtiger. Die Schwierigkeit liege allerdings in der Individualität der Patienten. „Jeder benötigt eine andere Dosis“, erklärte Aderhold. Der eine brauche zehnmal mehr als der andere, um die richtige Dosis zu erreichen. Dosiere man zu niedrig, stelle sich keine oder eine zu geringe Wirkung ein. Wenn man zu hoch dosiere, stiegen die Risiken etwa für Herzinfarkte und Nebenwirkungen wie Gewichtszunahme.

Ähnlich komplex sei es mit dem Zeitfaktor: 40 Prozent der erwünschten Wirkungen stellten sich rasch ein. Das volle Ausmaß sei aber erst nach vier Wochen zu erwarten. Außerdem beschrieben viele Patienten mit der Zeit eine nachlassende Wirkung. Tatsächlich würden etwa 75 Prozent der Patienten nach eineinhalb Jahren ihre Medikamente einfach weglassen. Doch das sei gefährlich, betonte Aderhold, denn nach abruptem Absetzen sei die Rückfallquote bis zu dreifach erhöht. Wer ohne Hilfe reduziere, erlebe öfter eine psychotische Episode und würde öfter in die Klinik eingewiesen – ein unsäglicher Kreislauf. „Im Verlauf wird es also immer schwieriger das komplexe System zu steuern“, gab Aderhold zu bedenken. Wer von den Medikamenten wegkommen möchte, müsse langsam vorgehen, sich einen günstigen Zeitpunkt und vor allem eine Begleitung, beispielsweise eine Selbsthilfegruppe, suchen. Eine gesunde Le- bensführung, Psychotherapie, Entspannungsmethoden und Bewegung beeinflussten den Prozess positiv. „Dennoch kann man nie sagen, bis wann man das Mittel abgesetzt hat, man kann sich nur auf den Weg machen“, lautet Aderholds Erfahrung. Dr. Heidrun Riehl-Halen

* Quelle: Arzneiverordnungsreport 2016

Selbsthilfegruppe: Seit Sommer 2016 gibt es eine begleitete Selbsthilfegruppe rund um das Thema Psychopharmaka. Hier kann man Fragen zur Medikamenten-Einnahme stellen, Hilfe beim Absetzen bekommen oder Erfahrungen mit Gleichgesinnten austauschen. Ergänzend dazu gibt es Vorträge über alternative Therapien und gesundheitsförderliche Lebensführung. Die offene Gruppe trifft sich montags von 16 bis 18 Uhr unter der Leitung eines Psychologen im Wichern-Haus. Die Tagesstätte für psychosoziale Hilfen gehört dem Verein der „Inneren Mission“ unter kirchlicher Trägerschaft an. Hilfesuchende können sich auch für ein Einzelgespräch an den Psychologen Reinhard Baeßler wenden. Das Angebot wird im Rahmen der psychosozialen Versorgung in Bremen finanziert und steht allen Bremern kostenfrei zur Verfügung. Mehr Informationen und Kontakt über Reinhard Baeßler, Wichern-Haus, Am Dobben 112, 28203 Bremen, Telefonnr.: (0421) 70 08 97. (hrh)

Bremer Netzwerk:  Das Netzwerk „reduzieren und absetzen“ besteht aus Menschen mit Psychiatrieerfahrung, die sich für einen kritischen Umgang mit Psychopharmaka einsetzen. Zu den Gründungsmitgliedern gehören Betroffene, Angehörige, Therapeuten und Ärzte aus Bremen. Ihr erstes Projekt ist eine zehnteilige trialogisch orientierte Fortbildungsreihe über einen Zeitraum von zwei Jahren. Sie wird durch eine begleitende Peer-Gruppe für Betroffene und Workshops im Austausch mit Referenten ergänzt. Auf Initiative des Netzwerks entstand auch eine Selbsthilfegruppe mit regelmäßigen Treffen. Für die Zukunft streben die Akteure eine feste Sprechstunde, insbesondere für Menschen mit Depressionen mit Beratungsbedarf im Umgang mit Psychopharmaka, an. Nach wie vor steht die Gruppe Interessenten offen, die sich in die Netzwerkarbeit einbringen möchten. Weitere Informationen zum Netzwerk und den Fortbildungen über: FOKUS, Gröpelinger Heerstraße 246 A, 28237 Bremen, Telefon: (0421) 3801950 E-Mail: fb-neuroleptika@fokus-fortbildung.de Web: www.fokus-fortbildung.de.