St. Pauli Fans
der trockenen Art

„Manche Kneipen waren mein zweites bis viertes Wohnzimmer“, schildert Fanclub-Sprecher Michael Krause seine frühere Tagesstruktur. Foto: Lampe

Jeden ersten Donnerstag im Monat lädt ein ganz besonderer St.-Pauli-Fanclub zum offenen Kaffeeklatsch ins Millerntor-Stadion ein: die Weiß-braunen Kaffeetrinker. Viele von ihnen können auf eine jahrzehntelange Suchtgeschichte zurückblicken und haben sich eines Tages den Kaffeetrinkern vom Kiez angeschlossen, um den Fußball in alkoholfreier Gesellschaft zu feiern, sich gegenseitig zu unterstützen und das Rückfallrisiko zu verringern.

Gegründet wurde der Club im Jahre 1996, aktuell hat er rund 20 Mitglieder. Der EPPENDORFER traf sich mit Gruppensprecher Michael Krause (57) und dem langjährigen Clubmitglied Wolfgang Strippgen (71). „Wir sind offen für alle und nehmen sogar HSV-Fans auf“, so Strippgen. Die Gruppe widme sich neben Alkoholkranken auch Menschen mit Depressionen, Spielsucht oder anderen Problemen. Der monatliche Kaffeeklatsch diene vor allem als erste Anlaufstelle für Interessierte, Angehörige und Betroffene. Treffpunkt ist von 16.30 bis 19 Uhr im Fanladen in der Gegengeraden des Stadions. HAMBURG. „Wir sind Fanclub und Selbsthilfegruppe zugleich“, so Michael Krause. Neben Präventionsarbeit mit Besuchen auf Suchtstationen sind auch gelungene Freizeitaktionen ein wichtiges Ziel der Weiß-braunen Kaffeetrinker. Dazu gehören natürlich gemeinsame Besuche der Heimspiele des FC St. Pauli, aber auch Grillfeste, Kegeltreffen und Grünkohlessen sowie die Teilnahme an Fußballturnieren der St.-Pauli-Fanclubs. Gelegentlich fahre man auch gemeinsam zu einem Auswärtsspiel, jedoch nicht allzu häufig, denn die trinkenden Fans in den Sonderzügen seien „schwer erträglich“. Im Clubheim des SC Sternschanze gebe es zudem eine gute Gelegenheit, die Spiele in alkoholarmer Umgebung im Fernseher zu verfolgen. Wer gerade erst mit dem Trinken aufgehört habe, der brauche ganz dringend alternative Freizeitbeschäftigungen: „Damit einem nicht die Decke auf den Kopf fällt“, so Krause. Die reine Entgiftung sei recht einfach und dauere auch nur fünf bis sieben Tage. „Das eigentliche Problem beginnt erst danach“.

Alkoholabhängige würden typischerweise viele Stunden mit Trinken verbringen. So war es auch bei Krause: „Manche Kneipen waren mein zweites bis viertes Wohnzimmer“. Nach der Entgiftung stelle sich häufig die Frage: Was soll ich jetzt mit meiner Zeit machen? „Viele haben ein sehr großes Problem damit“, so Krause. Je länger das Suchtproblem bestehe, desto mehr Zeit nehme es in Anspruch, und umso mehr habe man es mit Gleichgesinnten zu tun. Das soziale Umfeld breche immer mehr weg. „Saufkumpane und echte Freunde sind etwas völlig Verschiedenes. Echte Freunde machen sich Sorgen“. Dem früheren Spiegeltrinker Strippgen hat es nach der Entgiftung geholfen, feste Termine in einen Stunden- plan einzutragen. Er sei „schockiert“ gewesen, als er seinen sozialen Abstieg erkannte und merkte, wie gering seine Ansprüche geworden waren. Laut Krause hören viele Leute erst dann auf zu trinken, wenn ihr persönlicher Tiefpunkt erreicht ist. Die Süchtigen wüssten lange vorher, dass sie ein Problem haben, doch: „Von der intellektuellen Erkenntnis bis zur praktischen Handlung vergeht meistens noch viel Zeit“. Das sei krankheitsimmanent. So unterschiedlich die Einzelschicksale auch seien, „vieles ist gleich“. Auch Rückfälle gehörten leider dazu. „Meine erste Entgiftung habe ich auch nicht so ernst genommen“, so Wolfgang Strippgen. Er habe einige Zeit danach versucht, kontrolliert zu trinken, was allerdings misslang. Als er schließlich aufhören wollte, sei er in Panik geraten: „Ich hatte Herzrasen, Atemnot und Angst vor einem Herzinfarkt“. Schließlich habe er die 112 gewählt und einen Krankenwagen gerufen. „Das war schon ein einschneidendes Erlebnis“, so Wolf- gang Strippgen.

Doch zu seinen schlimmsten Erinnerungen gehöre es auch, nahestehende Personen angelogen zu haben, um seine Sucht zu kaschieren. Seit seinem qualifizierten Entzug im Jahr 2000 sei er trocken. Michael Krause hat nach eigener Aussage im November 2007 zum letzten Mal Alkohol getrunken. Doch beide leiden noch heute unter alkoholsuchtbedingten Folgekrankheiten. Dazu gehörten etwa Herzmuskel- schwäche, Bluthochdruck und Parodontitis. Auch das Risiko, an Diabetes II oder Krebs zu erkranken, sei deutlich erhöht. Krause gibt heute unumwunden zu, schon zehn Jahre vor seinem Ausstieg ein Problembewusstsein gehabt zu haben. „Doch ich wäre nie auf die Idee gekommen, mir Hilfe zu holen“, so Krause, „ich hatte das Gefühl, die Sache im Griff zu haben.“ Erst im Alter von 18 Jahren habe er langsam angefangen, Alkohol zu trinken. Danach habe er dann 30 Jahre lang moderat den Konsum gesteigert. „Ursprünglich habe ich Alkohol als gutes Medikament betrachtet, dann bin ich immer mehr in die Abhängigkeit geschliddert“. Irgendwann habe er sich selbst Trinkpausen verordnet von bis zu zwei Wochen, anschließend aber nur umso größere Mengen getrunken. 2007 sei schließlich alles über ihn eingebrochen: massive gesundheitliche Probleme, finanzielle Probleme und psychosoziale Probleme. „Hinzu kam die Kündigung meiner Wohnung, und krankenversichert war ich auch nicht mehr“. Der Strudel sei so groß gewesen, dass es ohne Hilfe nicht mehr weitergegangen wäre. Krause: „Ich wäre obdachlos geworden und gestorben“. Gerettet habe ihn sein Netzwerk aus Familienangehörigen, alten Freunden und Kollegen. „Danach konnte ich neu durchstarten“. Viele andere würden eine solche Unterstützung jedoch nicht erleben. „Sie haben nicht die Möglichkeit, den ganzen Mist wieder geradezubiegen“.

Für Leute ohne Wohnung, die verschuldet und arbeitslos sind, sei es nicht einfach, abstinent zu bleiben. Krause selbst habe inzwischen eine gewisse Abstinenzzuversicht entwickelt, wisse aber auch, dass er an einer chronischen Krankheit leide. „Und ich kenne welche, die nach 20 Jahren wieder rückfällig geworden sind“. Wichtig seien Sorge und Verantwortung für sich selbst: „Wenn etwas nicht gerade läuft, muss man etwas verändern“. Zu den wichtigsten Dingen, die ihnen nach ihrer Sucht geholfen haben, zählen Krause und Strippgen Selbsthilfegruppen und Therapien, Beratungen und Akkupunktur, ihre Arbeit und politisches bzw. soziales Engagement sowie Sport, Kino und Theater. „Sehr hilfreich war auch mein Notfalltelefonbuch“, so Krause. Er habe es aufgrund eines Tipps aus der Therapie angelegt, obwohl er darüber anfangs gelächelt habe. Doch als es einmal hart auf hart kam, sei genau das seine Rettung gewesen. Für Strippgen sei es besonders wichtig und erleichternd gewesen, sich seiner Tochter zu offenbaren. „Sie hat mir ihre Hilfe angeboten und mich nicht fallengelassen“. Er habe bereits im UKE einen Flyer über die Weiß-braunen Kaffeetrinker gesehen, erzählt Strippgen, schnell Kontakt zum Fanclub gesucht und bald darauf auch den Vorsitz übernommen. Viele Alkoholkranke glauben laut Krause, den Weg aus der Sucht allein zu schaffen. „Doch das tun sie nicht“. Manche empfänden vielleicht auch Angst oder Scham. Auch Strippgen sagt, er habe ein Leben ohne Alkohol früher als Bedrohung empfunden. Inzwischen sei es für ihn eine Erleichterung. Krause appelliert daher an die Betroffenen, sich Hilfe zu suchen. „Man kommt nicht allein da raus“. Weitere Informationen finden Sie im Internet unter www.weiss-braune-kaffeetrinker.de. Gesa Lampe