Medikamententests an Heimkindern

Betroffene leiden bis heute an den Folgen von Pharmatests in den 50er und 60er Jahren

Deutsche Pharmafirmen haben in den 50er und 60er Jahren Medikamententests an Heimkindern durchgeführt – damals wurden verstärkt Psychopharmaka entwickelt, die im klinischen Alltag erprobt werden mussten. Nach Recherchen der ZDF-Sendung Frontal21 wurden in verschiedenen westdeutschen Einrichtungen Neuroleptika erprobt.

In der damaligen Kinder- und Jugendpsychiatrie im niedersächsischen Wunstorf wurde – ohne Einwilligung der Betroffenen – das Anti-Demenzmittel Encephabol an Kindern beziehungsweise
Jugendlichen getestet. Die Leitung hatte der damalige Chef der Kinder- und Jugendpsychiatrie Wunstorf, Hans Heinze, der während der NS-Zeit als Euthanasie-Gutachter fungierte.

Marion Greenaway kam mit 14 Jahren in den Birkenhof, ein geschlossenes Mädchenheim in Hannover. Monatelang habe die 14-Jährige täglich Tabletten einnehmen müssen, obwohl sie, wie sie heute sagt, kerngesund war. Nach einem Vierteljahr kam sie in die Kinder- und Jugendpsychiatrie Wunstorf bei Hannover, wo eine Ärztin mit einem EEG die Gehirnströme des Mädchens aufzeichnete und auch eine Lumbalpunktion vornahm.

„Ich bin davon überzeugt, dass wir Testpersonen waren, weil diese Medikamente, die sie uns damals verschrieben haben, heute für Epilepsie und Demenz benutzt werden“, sagte sie dem ZDF-Magazin. Heute leidet sie unter chronischen Kopf- und Rückenschmerzen, Depressionen und Albträumen und kämpft bislang vergeblich um Entschädigung.

Die Firma Merck, die Encephabol 1963 auf den Markt brachte, räumte gegenüber dem ZDF Hinweise auf entsprechende Studien ein, verwies aber „auf die damals andere Gesetzeslage zur Dokumentation von Medikamententests“. Immerhin: Die Klinikleitung in Wunstorf entschuldigte sich offiziell bei Marion Greenaway. Zu Medikamententests wie bei Marion Greenaway mangelt es an schriftlichen Unterlagen. Die Pharmazeutin Sylvia Wagner, die an der Universität Düsseldorf zu Medikamententests in westdeutschen Kinderheimen forscht, fand andere Hinweise: „Ich habe mehrfach in Dokumenten gefunden, dass Ärzte berichteten: ,Wir haben das Medikament in Tierversuchen getestet, wir müssen das jetzt am Menschen testen’“, sagte sie dem ZDF. Und dafür habe man Heimkinder benutzt.

Die Ergebnisse der Encephabol-Studie veröffentlichte Heinze in einer medizinischen Fachzeitschrift. Es ist einer von bislang wenigen bekannten Belegen. Auch der ehemalige Leiter der Rheinischen Landesklinik in Düsseldorf, Friedrich Panse, war einst als Euthanasie-Gutachter aktiv und veranlasste später, 1966, eine Studie mit Kinderheimkindern mit dem Neuroleptikum Chlorprothixen (Handelsname: Truxal). Innerhalb eines Dreivierteljahrs hätten die Kinder des Kinderheims – Frontal spricht von 40 Versuchspersonen – insgesamt über 37.000 Pillen schlucken müssen, darunter allein 13.000 Tabletten „Truxal“, heißt es in dem ZDF-Bericht. Die Pharmazeutin Sylvia Wagner habe bisher 50 Studien mit Heimkindern gefunden, die im Auftrag oder in Kooperation mit Arzneimittelfirmen entstanden waren, und spreche von der „Spitze eines Eisbergs“. So führte die Spurensuche auch in die ehemaligen Rotenburger Anstalten bei Bremen. Der Medikamenteneinsatz in der Heimerziehung, das Zusammenwirken von Heimerziehung und Psychiatrie und die Beteiligung von Ärzten an solchen Versuchen seien für die 50er und 60er Jahre noch kaum erforscht und bedürften der weiteren Aufarbeitung, heißt es im Abschlussbericht von 2010 des „Runden Tischs Heimerziehung“ (RTH).

Falls es im Rahmen der Heimerziehung zu Medikamententests gekommen sei, heißt es weiter im Bericht, sei dies „gegebenenfalls als schwere Körperverletzung zu beurteilen – selbst nach damaligen Maßstäben.“ Einer, der die gesundheitlichen Spätfolgen bei Heimkindern untersucht, ist der Bochumer Neuropsychologe Burkard Wiebel. O-Ton Wiebel im ZDF: „Es sind immer Herzkreislauferkrankungen und Diabetes mellitus, von dem gesprochen wird. Die Lebenserwartung ist eindeutig reduziert bei Heimkindern der damaligen Zeit, die Neuroleptika bekommen haben. Man spricht immer so von 15 bis 20 Jahren.“ In Deutschland lebten zwischen 1949 und 1975 rund 800.000 Kinder und Jugendliche in Heimen.