Klingelbiels Erbe: Was wird aus Zelle 117?

GÖTTINGEN. Tonkuhlenweg 23 in Göttingen – Mehr als 100 Jahre lang war dies eines der bestgesicherten Gebäude in Niedersachsen. Bis vor wenigen Wochen waren hier psychisch kranke Straftäter untergebracht, die wegen besonderer Gefährlichkeit oder Fluchtgefahr nicht in anderen Kliniken behandelt werden konnten. Jetzt steht das von einer meterhohen Mauer umgebene „Feste Haus“ leer.

Ende März sind die 25 Patienten, die zuletzt hier untergebracht waren, in einen Neubau umgezogen. Die 30 Millionen Euro teure Spezialklinik, die zum niedersächsischen Maßregelvollzugszentrum Moringen gehört, bietet deutlich bessere Unterbringungs- und Therapiemöglichkeiten. Ein Problem ist indes noch ungelöst: Eine der früheren Zellen in dem Altbau steht unter Denkmalschutz, weil sie als einzigartiges Beispiel der Outsider-Kunst gilt. Das Land Niedersachsen als Eigentümer des Gebäudes muss nun eine Lösung finden, wie die so genannte Klingebiel-Zelle erhalten werden kann.

Erst jetzt, da das Gebäude leer steht, können sich auch Außenstehende einen direkten Eindruck von dem Kunstwerk des einstigen Psychiatrie-Patienten Julius Klingebiel verschaffen. Auf dem Weg dorthin sieht man noch den einstigen Kontrollraum, die Überwachungskameras und die vergitterten Türen und Fenster, die ein Entweichen verhindern sollten. Eine der Türen an dem langgestreckten Flur im ersten Obergeschoss führt zu Zelle 117. „Die Zellentüren sind sehr niedrig, das hat man damals bewusst so gebaut“, erläutert der ärztliche Direktor des Maßregelvollzugszentrums in Moringen, Dirk Hesse. Das 1909 eingeweihte festungsähnliche Gebäude war als Verwahrhaus konzipiert, nicht als Therapieeinrichtung. Dies spiegelte sich auch in der Innenarchitektur wieder.

Auch Julius Klingebiel musste den Kopf einziehen, wenn er durch die Tür ging. Zwölf Jahre lang hat er in dem knapp zehn Quadratmeter großen Raum gelebt. An der Stirnseite befindet sich ein vergittertes Fenster, durch das nur wenig Licht hereinkommt, an der linken Wand hängt ein Waschbecken, daneben ist ein Klosett. Der aus Hannover stammende Schlosser war 1939 als „gefährlicher Geisteskranker“ in die Psychiatrie eingewiesen worden. 1940 wurde er als Opfer der NS-Rassengesetze zwangssterilisiert und nach Göttingen verlegt. Ab 1951 war er in der Einzelzelle 117 untergebracht. Hier erschuf er sich eine eigene Welt, indem er unermüdlich die meterhohen Wände bemalte. Die mosaikartigen Bilder zeigen ein Sammelsurium an Formen und Motiven – Porträts, exotische Tiere, Schiffe, Zeppeline, Raketen, Flugzeuge, Wimpel, Fahnen. Heute gelten die Wandmalereien als eines der bedeutendsten Werke der so genannten „Outsider“-Kunst.

Vor kurzem wurde das Gebäude, das anders als die Zelle nicht unter Denkmalschutz steht, dem Landesliegenschaftsfonds übergeben. Jetzt muss sich das Finanzministerium mit der kniffligen Frage befassen, wie man das Gebäude künftig nutzen und gleichzeitig die Zelle retten kann. Derzeit würden die Optionen „für den dauerhaften Verbleib beziehungsweise die zukünftige konservatorisch angemessene Präsen- tation“ der Klingebiel-Zelle intensiv geprüft, teilte ein Ministeriumssprecher mit. Inzwischen gibt es diverse Ideen. Die Göttinger SPD-Fraktion beispielsweise möchte das „Feste Haus“ als Kultureinrichtung nutzen und dort Proberäume für Musikgruppen einrichten. Das Sprengel-Museum würde dagegen die Wandmalereien gerne nach Hannover transferieren und in seine Sammlung aufnehmen. Außerdem gibt es Überlegungen, in dem Gebäude Flüchtlinge unterzubringen. In einem Punkt sind sich indes alle einig: Als Klinik ist das „Feste Haus“ nicht geeignet. Heidi Niemann (pid)

BU“Klingelbiel“ : So könnte die bewohnt Zelle ausgesehen haben. Im Hintergrund die Originalzeichnungen.
Foto: Screenshot youtube.de/NDR