Euthanasie: Empathie nur für die Täter 

HAMBURG. Am 9. Mai erinnerten mit gemeinsamen Veranstaltungen die Asklepios Klinik Nord – Ochsenzoll, die Evangelische Akademie der Nordkirche, die Evangelische Stiftung Alsterdorf und die Stiftung Freundeskreis Ochsenzoll an die „Euthanasie“-Verbrechen des Nazi-Regimes. Mehr als 500 Menschen mit Behinderung, die den Alsterdorfer Anstalten anvertraut waren, wurden im Dritten Reich ermordet, genauso erging es fast 4000 Patienten der damaligen Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn.

Während beim „Alsterdorfer Vormittag“ ein Gottesdienst und eine szenische Lesung zum Thema Schuld und Verantwortung der Mittäter in der Pflege im Mittelpunkt standen, referierten beim „Ochsenzoller Nachmittag“ in der Asklepios Klinik Nord die Historiker Dr. Stephan Linck und Sönke Zankel über hochgestellte „Euthanasie“-Mörder, denen nach 1945 sowohl von Seiten der Kirche als auch der Justiz und Politik jede nur erdenkliche Unterstützung und Empathie entgegengebracht wurden. Für die Opfer konnte man das nicht behaupten.

Prof. Dr. Werner Catel, von 1933 bis 1945 Professor für Kinderheilkunde an der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig und Direktor der Universitätsklinik Leipzig, war ein Protagonist der NS-„Kindereuthanasie“. Seit 1939 entschied er als einer von drei Gutachtern in einem sogenannten „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ über Leben und Tod behinderter Kinder – nur nach Aktenlage. Senkte sich sein Daumen, wurde das betreffende Kind kurz darauf in einer der 30 „Kinderfachabteilungen“ auf grausame Art und Weise ermordet, etwa durch Luminal-Injektionen. 5000 Opfer gab es mindestens, die Schätzungen gehen aber hoch auf bis zu 10.000, so Sönke Zankel. Nach dem Krieg wurde Catel für seine Verbrechen nie juristisch zur Verantwortung gezogen. Schlimmer noch: Die Karriere des überzeugten Nationalsozialisten nahm in der Bundesrepublik wieder richtig Fahrt auf. Höhepunkt: 1954 wurde er zum Leiter der Kieler Universitätskinderklinik berufen.

Welche Gesinnung dieser Mann zeitlebens hatte, wird nicht zuletzt in einem Spiegel-Interview von 1964 deutlich, aus dem Prof. Claas-Hinrich Lammers, Ärztlicher Direktor der AK Nord, in seiner Begrüßung zitierte und das auch ein Schlaglicht auf die bundesrepublikanische Gesellschaft dieser Zeit wirft. Catel forderte darin ungeniert die Tötung von „Vollidioten“ mit Sätzen wie diesen: „Ich habe Kreaturen gesehen, die fraglos Vollidioten waren und dennoch äußerlich hübschen Kindern glichen. Auch aus diesen Wesen kann trotz intensivster ärztlicher und pflegerischer Bemühungen nichts herausgeholt werden. Sie bleiben auf der Stufe des Neugeborenen stehen. Für immer.“ Catel sprach den „Vollidioten“, „vollidiotischen Missbildungen“ und „Monstren“, wie er sie immer wieder titulierte, jedes Menschsein ab – und auch die Spiegel-Redakteure, denen Catels Forderungen offenbar nachvollziehbar erschienen, übernahmen die menschenverachtende Sprache. Noch einmal Catel: „Hier ist die Rede nicht von Menschen, sondern von Wesen, die lediglich von Menschen gezeugt wurden, die aber selber keine mit Vernunft oder Seele begabten Menschen sind oder je werden können…. Man wird erkennen müssen, daß es menschlicher ist, die idiotischen Kinder von ihrem Unglück zu erlösen als sie zur Qual für ihre Angehörigen vegetieren zu lassen.“

Sowohl das Kultusministerium in Kiel als auch die Universität wussten laut Zankel vor Catels Berufung zum Leiter der Kieler Universitätskinderklinik von dessen Vergangenheit, sahen darin aber offenbar kein Problem. Dabei war das NSDAP-Mitglied Catel keineswegs nur ein Mitläufer, sondern „ein überzeugter Vertreter der NS-Ideologie, der bis zuletzt an den Endsieg glaubte“, so Zankel. 1960 zeigte der in New York lebende Professor Rudolph Degkwitz, ehemaliger Chefarzt des Eppendorfer Kinderkrankenhauses, Catel wegen der „Euthanasie“-Verbrechen ein zweites Mal an (1949 wurde das Verfahren von NS-belasteten Richtern niedergeschlagen). Nun wurde der öffentliche Druck für Werner Catel zu groß – der „Spiegel“ brachte einen Artikel zur „Euthanasie“ und stellte insbesondere ihn heraus. Obwohl sich der Kultusminister Osterloh abermals schützend vor ihn stellte, gab Catel, inzwischen 67-jährig, auf und bat um seine Emeritierung. Dem wurde von der Landesregierung entsprochen. Damit ist die Geschichte aber noch nicht zu Ende. Catel starb 1981 und vermachte sein Vermögen der Universität Kiel mit der Bedingung, eine „Werner-Catel-Stiftung“ für experimentelle und naturwissenschaftliche Forschung zu gründen. Diesmal gingen vor allem die Studenten auf die Barrikaden und zwangen so gemeinsam mit einer mobilisierten Öffentlichkeit die Universität, dieses Ansinnen abzulehnen. Zankel: „Wieder kam der Druck von außen, von Innen passierte an der Universität nichts“. Die hatte dem ehemaligen Ordinarius in ihrer Todesanzeige noch attestiert, er habe „in vielfältiger Weise zum Wohle kranker Kinder beigetragen“.

Bis heute hängt ein Porträt von Catel in der Kinderklinik, das erst seit 2006 und nur wegen heftiger studentischer Proteste mit einem erklärenden kritischen Text versehen ist. „Der Text ist ein Fortschritt, aber inhaltlich falsch“, so Zankel. Denn eine Passage lautet: „Die Verantwortlichen der Kinderklinik, die Medizinische Fakultät und die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel verurteilen Catels Mittäterschaft an der ,Kindereuthanasie’. Die Berufung auf einen Lehrstuhl der Kieler Universität ist nicht zu rechtfertigen, wenn auch offen bleiben muss, inwieweit damals den Berufenden die Verstrickung Catels in die ,NS-Kindereuthanasie’ bekannt war.“ Zankel: „Es war ihnen bekannt.“

Schutz der Täter, Verhöhnung der Opfer – was sich nach Kriegsende in der Bundesrepublik abspielte, lässt Nachgeborene nur noch fassungslos zurück. Da wäre die Justiz, die etwa in Form des Hamburger Landgerichts 1949 die Eröffnung eines Hauptverfahrens gegen Catel ablehnte, weil es nicht erkennen konnte, dass die „Verkürzung lebensunwerten Lebens eine Maßnahme genannt werden [könne], welche dem allgemeinen Sittengesetz widerstreite“. Doch nicht nur Nazi-Juristen hielten nach 1945 ihre schützende Hand über die Täter, auch die Kirchen widmeten ihnen ihre ganze Fürsorge, wie Dr. Stephan Linck in seinem Vortrag über den Fall Heyde-Sawade darlegte.

Der Psychiatrieprofessor Werner Heyde war Leiter der medizinischen Abteilung der „Euthanasie“-Zentrale und Obergutachter der „Euthanasie“-Aktion T4, ein Massenmörder, der laut späterer Anklageschrift beschuldigt wurde, heimtückisch, grausam und mit Überlegung mindestens 100.000 Menschen getötet zu haben. Nach dem Krieg konnte er untertauchen und in Flensburg unter dem Namen Fritz Sawade als Arzt praktizieren – und sogar Gutachten für Gerichte erstellen. 1964, kurz vor Beginn seines Prozesses, brachte er sich um. Der Skandal: Sawades wahre Identität war ein offenes Geheimnis, er wurde von höchsten Kreisen aus Justiz, Medizin und Politik gedeckt. 18 Personen, darunter Professoren, Richter und Beamte, zählte 1961 der Untersuchungsausschuss des schleswig-holsteinischen Landtages als Mitwisser auf. Die alten braunen Kader hielten zusammen, und einer von ihnen war der Generalstaatsanwalt von Schleswig-Holstein, Adolf Voß.

Stephan Linck zeigte am Beispiel von Voß, der Präsident der Landessynode war, auf, wie auch die Kirche die „Euthanasie“-Verbrechen bagatellisierte. Denn obwohl sich bei Aufdeckung des Skandals 1959 herausstellte, dass Ex-NSDAP-Mitglied Voß seit mindestens 1952 von der Identität Sawades wusste und ihm Gutachteraufträge beschaffte, distanzierte sich die Kirche nicht von ihm. Im Gegenteil: 1960 wurde er mit überwältigender Mehrheit wiedergewählt, „in einer Zeit, in der eine Welle des Antisemitismus durch Deutschland schwappte“, so Linck. Über den Skandal wurde bei der Versammlung kein Wort gesprochen, und auch nachdem die Verwicklung von Voß in den Skandal im Untersuchungsausschuss herausgearbeitet wurde, hielten die Männer der Kirche treu zu Voß, der in den Ruhestand versetzt wurde. Wie der  Schleswiger Bischof Reinhard Wester, der bei der Einführung eines evangelischen Pastors in der Gemeinde Buhrkall in Nordschleswig 1961 laut der ZEIT sagte: „Der Schatten, der über dem Namen von Dr. Voß in letzter Zeit lag, wird mehr und mehr weichen. Sein Name wird makellos sein. Wir hoffen, daß er am Herzen wieder ganz fröhlich wird, und bitten Gott, daß er vor den Augen der Welt offenbaren möge, was rechtens ist.“

Die massenhafte Tötung von psychisch Kranken und behinderten Menschen galt bis weit in die Nachkriegszeit hinein in der Bundesrepublik als Kavaliersdelikt, das machte dieser Nachmittag in der AK Nord wieder einmal deutlich. Und heute? Der „Euthanasie“ wird in Deutschland nicht mehr das Wort geredet – in anderen Ländern gibt es aber bereits ganz andere Debatten. Es gilt, wachsam zu bleiben.  Michael Freitag