„Die Welt wird starr, stumm und leer“: Hartmut Rosa und die Sozialpsychiatrie

Sorgte für sehr viel Resonanz: Prof. Hartmut Rosa aus Jena. Foto: Detlev GagelSorgte für sehr viel Resonanz: Prof. Hartmut Rosa aus Jena. Foto: Detlev Gagel

HANNOVER. Über dem zweijährlich stattfindenden bundesweiten Netzwerktreffen der Sozialpsychiatrischen Dienste flattert stets das Logo „Segel setzen“. In diesem Jahr konzentrierte sich die gut besuchte zweitägige Tagung in Hannover auf die Problematik „Armut behindert Teilhabe“. Zur Einleitung stand am ersten Tag eine geballte Ladung Gesellschaftskritik auf dem Programm, mit der insbesondere Prof. Hartmut Rosa für viel Resonanz sorgte …

„Das ,Inverse Care Law’ – Der Sozialdarwinismus infiltriert die Versorgungsstrukturen: was können wir tun?“ Mit dieser weit ausholenden Fragestellung war der Vortrag von Prof. Dr. Günther Wienberg (v. Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel) im Programm angekün-
digt. Er zog in seinem durch zahlreiche Zahlen untermauerten Vortrag eine kritische Bilanz der Psychiatriereform und der aktuellen Situation. Analyse und Befund sind nicht neu, erschüttern aber in dieser Konzentration aufs Neue: Das meiste Geld wird für die Menschen mit leichten Störungen ausgegeben, das System steht auf dem Kopf. Zwischen dem gut ausgebauten ambulanten System und dem noch immer schwergewichtigen stationären Sektor sieht der Referent eine erhebliche Lücke. Hierfür stellte er sein zusammen mit Ingmar Steinhart entwickeltes „Funktionales Basismodell“ vor, das in den letzten Monaten bereits mehrfach publiziert wurde. Von diesem Modell werden wir noch hören, auch weil im Herbst 2017 das Buch dazu im Psychiatrie-Verlag erscheinen wird.

Bekannter Buchautor (zuletzt: „Resonanz“, Suhrkamp) war auch der nächste Redner: Prof. Dr. Hartmut Rosa vom Institut für Soziologie Jena. „Im Hamsterrad – Die Ökonomisierung der Gesellschaft zerstört Resonanzräume: was können wir tun?“ lautete sein Thema. Dorn in seinem Auge: Steigerung als Grundprinzip moderner Gesellschaften. Nur wenn alles immer schneller, immer besser, immer mehr werde, bleibe das System erhalten. Egal, was in diesem Jahr war – im nächsten muss noch eine Schippe drauf. Wachstumsoptimierung! Schon die Kinder müssten möglichst früh gefördert werden, nicht damit es ihnen einmal besser gehe, sondern damit es ihnen nicht schlechter gehe.

Und weshalb ist die Steigerung so attraktiv? Sie bringt uns die Welt in Reichweite. Wir sind überall gleichzeitig, die Digitalisierung macht es möglich. Rosas Beispiel: Spotify. Die Musik wird grenzenlos angeeignet. In jedem Moment habe ich Zugriff auf alle Musiktitel, aber sie bedeuten mir nichts mehr. Die Anverwandlung der Welt gelingt nicht mehr. Facebook, Spotify, da kommt nichts mehr zurück. Die Welt wird kalt, stumm, starr und leer. So ist es ja auch mit der Ökokrise: Die Natur ist zu langsam! Die Bäume wachsen nicht schnell genug, die Fische vermehren sich nicht schnell genug – der Treibhauseffekt ist eine Folge der materiellen Beschleunigung.
Die Psyche ist aber nicht beliebig optimierbar. Rosa hielt hier kurz inne. „Das Interessante: Der IS will einfrieren, er will den Stillstand, das Ende dieser Beschleunigung. Aber ich will jetzt keine Propaganda für den IS machen…“ Alle wollten eine expandierende dynamische Stabilisierung, aber das gehe nicht. Das Ziel müsse lauten: Adaptive Stabilisierung. Rosa verweist da auf seine Kollegen Görre und Lessenich, mit denen er gemeinsam in Jena arbeitet.

Na schön, und was machen wir jetzt? Das Jenaer Projekt suche nach den Konturen einer Postwachstumsgesellschaft. Das heiße nicht, dass die Gesellschaft niemals wachsen, beschleunigen oder innovieren darf – sondern nur, dass sie es nicht unaufhörlich muss, nur um ihre Strukturen zu erhalten. Sie soll modern sein im Sinne des „Projekts der Moderne“, d.h. liberal, pluralistisch, demokratisch. Als mögliche Lösungen nennt Rosa unter anderem das bedingungslose Grundeinkommen und die globale Erbschaftssteuer.

Und die Sozialpsychiatrischen Dienste? Ihre Aufgabe sei es, Resonanzräume zu schaffen, so Rosa weiter. Menschen brauchen Resonanz, sie wollen berührt werden, dafür braucht es Zeit, so sein Credo. Das gelingt in der Natur, bei der Beschäftigung mit Dingen, beim gegenseitigen Blick in die Augen. Der Gegensatz von Entfremdung ist nicht Autonomie, sondern Resonanz. „Wir müssen uns einlassen, uns verlieben“, so Hartmut Rosa.

Rosa sprach rasant, fast atemlos, und ließ die Zuschauer erschöpft und gleichzeitig euphorisiert zurück. Der ganze Saal ein einziger Resonanzkörper, wie man es manchmal nach besonders gelungenen Vorträgen erlebt. Nachfragen und Anmerkungen bezogen sich auf strukturelle und spirituelle Aspekte. Kein Wunder, denn der Vortrag enthielt reichlich pastorale Anmutungen. Vielleicht ist es auch das Verschwinden der Religion, das die Beschleunigung fördert.
In dem bereits vorab erhältlichen Tagungsband findet sich Rosas Beitrag: „Jenseits von Hahnenschrei und Werkssirene. Die Auflösung sozialer Rhythmen in der Beschleunigungs- gesellschaft.“ Hier formuliert Rosa die These, dass Beschleunigung die Antwort der modernen Gesellschaft auf den Tod sei. Bevor wir sterben müssen, wollen wir noch unendlich viel erleben (Seite 32). Hartmut Rosa hat uns einige Ohrwürmer implantiert: Weltreichweite, Anverwandlung, Resonanzräume, Postwachstumsgesellschaft.

Und in den Workshops an diesem ersten Tag wurde er immer wieder zitiert: Ob beim Thema „Wohnungslose“ mit der immer wieder eindrucksvollen Ulla Schmalz, beim Thema „Chronisch mehrfach Abhängigkeitskranke“ mit Thomas Bader, oder beim Thema „Langzeitarbeitslosigkeit“ mit Manfred Becker. In allen Workshops wurde intensiv gearbeitet und diskutiert; die Ergebnisse aller Workshops waren für die Tagungsteilnehmer an den Tischen eines großen World-Café zu erleben. Häufig sind es diese eher informellen Gespräche in kleiner Runde, von denen die Teams enorm profitieren: Wie arbeitet ein SpD in der Großstadt, auf einer Insel, in einer ländlichen Region? So war ganz nebenbei zu erfahren, dass ein Sozialpsychiatrischer Dienst von der Zuständigkeit des Gesundheitsamtes zur Abteilung Soziales wechseln musste – und alles wurde besser. Wer hätte das gedacht?
Ilse Eichenbrenner