Die „Andersrum WG“

Treffpunkt WG-Gemeinschaftsraum: Herbert Villhauer (r.) im Gespräch mit Andy. Foto: Göttsche

Erste Wohngemeinschaften für schwule, psychisch erkrankte Männer in Hamburg

Der Psychosoziale Trägerverein PST bietet zusammen mit dem Magnus-Hirschfeld-Centrum WGs für psychisch erkrankte homosexuelle Männer an. Ein Ortsbesuch.

HAMBURG. An einer der lautesten Straßen Hamburgs hat er zur inneren Ruhe gefunden. Denn was sind schon die über 30.000 Autos täglich gegen die inneren Dämonen, die Andy (Name geändert, d. Red.) noch bis vor kurzem quälten. Außerdem dämpfen die gut isolierten Fenster der Altbauwohnung den pausenlosen Verkehr zu einem leisen Hintergrundrauschen. „Mir geht es wirklich gut hier“, sagt der 44-Jährige entspannt. Seit dem vergangenen Mai richtet er sich hier ein neues Leben ein.

Sein früheres Leben endete Anfang vergangenen Jahres in der psychiatrischen Abteilung der Hamburger Uniklinik Eppendorf. „Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt – so war ich eigentlich immer“, erzählt er über sich. Der volkstümliche Ausdruck kaschiert oft genug eine bipolare Erkrankung, wie sie sich bei Andy entwickelte. Sein Leben geriet zu einer Achterbahnfahrt der Gefühle. Er wurde Friseur, zog aus seiner Westerwald-Heimat in den Norden und eröffnete nach einigen beruflichen Episoden an wechselnden Orten mit 30 in Norderstedt einen eigenen Salon. „Als Selbstständiger lassen sich die depressiven Phasen schon durch die Menge an Arbeit äußerlich unterdrücken“, erzählt er. „Und in der Manie kann man so richtig loslegen – zu Beginn ist das auch immer großartig. Ich stand dann richtiggehend unter Strom, der Laden brummte. Ich war ein Edward mit den Scherenhänden“. Immerhin hatte ihm seine Homosexualität keine zusätzlichen Probleme beschert. „Seit meinem 16. Lebensjahr bin ich immer offen damit umgegangen“.

Die innere Ruhelosigkeit trieb ihn zu jährlichen Umzügen. Ein teures Leben unter Dampf und dabei mit Stil: Luxuriöse Wohnungen in schönen Lagen, Oberklasse-Autos. Doch der Stress forderte auch seinen somatischen Tribut: Familiär vorbelastet, hat Andy bereits drei Herzinfarkte hinter sich. Die bipolaren Störungen verstärkten sich: „Vor acht Jahren wurde ich erstmals von einer Psychose heimgesucht“, erinnert er sich. „Zum Glück hatte ich einen lichten Moment und sah selbst, dass mit mir etwas nicht stimmt“, blickt Andy zurück. Aus freien Stücken suchte er eine Psychiatrie nördlich von Hamburg auf. Es sollten noch weitere stationäre Aufenthalte folgen, aber er schaffte es, den Frisiersalon aufrecht zu erhalten. „Die Arbeit hatte viel verdecken können, bis zum Schluss gar nichts mehr ging“, erinnert er sich. Verkauf des Ladens, anstehende Insolvenz – dann eine heftige manische Episode, die ihn für drei Wochen in die Hamburger Uni-Klinik führte. „Und dann stand ich buchstäblich vor dem Nichts, war völlig down“, sagt er. Die teure Eimsbütteler Dachterrassen-Wohnung, seine letzte Adresse, musste er verlassen. „Ich hatte niemanden und war außerstande, mich überhaupt um mich selbst zu kümmern“.

Über das Gemeindepsychiatrische Zentrum Eimsbüttel geriet er an den Psychosozialen Trägerverein Eppendorf/Eimsbüttel. Der PST leistet ambulante Hilfe und Unterstützung bei psychischen Erkrankungen – dazu gehört auch ein weitgefächertes Angebot an Wohngemein- schaften. Andys Glück: Gerade zu diesem Zeitpunkt stand ein neues WG-Projekt in Kooperation mit dem Magnus-Hirschfeld-Centrum vor der Realisierung: Hamburgs erste Wohngemeinschaft für Schwule mit psychischen Erkrankungen, die „Andersrum-WG“. Mitte Mai war die Saga-Wohnung saniert und renoviert: vier Zimmer, Küche und Bad, 100 Quadratmeter, hohe Decken, heller Parkettfußboden – konzipiert für drei Bewohner. Herzstück der Wohnung ist ein großer Gemeinschaftsraum. Andy war der erste, der hier eingezogen ist. Mitbewohner folgten kurze Zeit später. „Das gemeinsame Wohnen funktioniert gut“, sagt Andy. „Ich bin nicht allein, mein Alltag hat durch die WG und die Angebote des PST wieder Struktur und Ordnung bekommen. Etwas Besseres hätte mir nicht geschehen können“.

Neben einer Psychotherapie und einer gelungenen medika- mentösen Einstellung ist es dieses Umfeld, das eine verlässliche Stabilität in sein Leben bringt. Montags Kochen, donnerstags WG-Sitzung, freitags Schwimmen: Andy hat sich aus dem umfangreichen Gruppen-Angebot des PST einen persönlichen Wochenplan zusammengestellt. Seinem gehobenen Lebensstil von früher trauert er nicht hinterher. „Die ganzen teuren Äußerlichkeiten sind nicht mehr mein Ding. Hier fühle ich mich gut behütet und weiß mich beim PST in besten Händen“, sagt er und baut auf eine neue Zukunft: Er möchte sich zum medizinischen Bademeister umschulen lassen. „Wenn ich psychisch so weit bin, werde ich mir auch eine eigene Wohnung suchen“. Einer seiner beiden Mitbewohner hat diesen Schritt bereits getan und ist kürzlich ausgezogen: Ein Platz ist damit frei, die „Bewerbungsrunde“ hat begonnen.                                                                Michael Göttsche


Doppelte Stigmatisierung

Schwul und dazu psychisch krank, das ist „ein doppeltes Stigma in unserer Gesellschaft – auch heute noch“, konstatiert Herbert Villhauer (PST). „Hinzu kommt, dass man als psychisch Kranker auch innerhalb der Gay-Community schlechte Karten hat. Jemand, der ,verrückt‘ ist, steht dort ganz unten in der Hierarchie“. Das PST hält für Menschen in Lebenskrisen und mit psychischen Erkrankungen eine ganze Palette an Unterstützungsangeboten und Hilfen bereit. Dazu zählen auch über 20 betreute Wohngemeinschaften – und seit dem vergangenen Jahr auch ambulante WGs für psychisch erkrankte Homosexuelle, ein Novum in Norddeutschland. Villhauer hatte das Konzept nach Berliner Vorbild entwickelt. Die dortige Schwulenberatung ist Träger von vier WGs. „Solche Schwulen-WG ist nichts Diskriminierendes“, so Villhauer. „Die Bewohner sind einfach froh, mal unter sich sein zu können“. Die Hamburger „Andersrum-WGs“ sind das Ergebnis einer Kooperation des PST mit dem Magnus-Hirschfeld-Centrum Hamburg (MHC).

Der Bedarf ist groß: Schon das bloße Gerücht vom WG-Projekt hatte eine derartige Menge an Anfragen aus der Szene zur Folge, dass das Projekt nun erst recht in Fahrt kam. Die erste WG mit drei Plätzen öffnete ihre Wohnungstür im Mai 2016, im Herbst ist die zweite Wohngemeinschaft für vier Personen eröffnet worden – beide sind in Altona-Nord. Wer einen Platz bekommt, entscheidet das PST-Team. Bewerber stellen sich dort und beim Fachamt Eingliederungshilfe vor. „Die Fachbehörde unterstützt uns sehr“, sagt Villhauer. Voraussetzung für den Einzug in die betreute WG ist die Eingliederungshilfe nach den Paragra- phen 53 und 54 Sozialgesetzbuch XII. Die Art der psychischen Erkrankung spielt keine Rolle. „Am verbreitetsten sind Erkrankungen aus den Bereichen Schizophrenie und Depression“, so Villhauer. Die Unterstützung durch den PST findet sowohl in dessen Büroräumen als auch regelmäßig vor Ort statt. „Wir sehen uns damit auch in einer Art Lotsenfunktion und helfen den Bewohnern beispielsweise auch bei Fragen rund um Behördliches, Berufsfindung und Wiedereingliederung“, sagt Herbert Villhauer.

Jeder WG-Bewohner hat einen persönlichen sozialtherapeutischen Ansprechpartner im PST. Die Besonderheit der „Andersrum“-WGs ist, dass ein Teil der betreuenden Mitarbeiter selbst schwul ist. Sie kennen das schwule Leben in Hamburg aus eigener Erfahrung und können auch im Umgang mit Szene, Partnerschaft und Sexualität beraten. Ein wichtiger Teil des Betreuungskonzepts ist die verbindliche Teilnahme an der „Andersrum Gruppe“ im MHC, einer pädagogisch angeleiteten Gruppe für Männer mit einer psychischen Erkrankung. (gö)