Der Klang der Wut

Seine unabdingbare Liebe zur Musik, zum Klavier, zu Bach, Beethoven und Chopin hat James Rhodes gerettet. Foto: © Richard Ansett / Dave BrownSeine unabdingbare Liebe zur Musik, zum Klavier, zu Bach, Beethoven und Chopin hat James Rhodes gerettet. Foto: © Richard Ansett / Dave Brown

Als Kind vergewaltigt zu werden, ist der Everest des Traumas. Wie könnte es auch anders sein? Ich wurde ab meinem siebten Lebensjahr benutzt, gefickt, gebrochen, als Sexpuppe missbraucht und geschändet. Immer und immer wieder, jahrelang. Und das kam so: …“Hier beginnt James Rhodes – Autor des Buches „Der Klang der Wut“ – seine Geschichte zu erzählen. Und es ist eine Geschichte von unfassbarer Gewalt, die ihm, dem damals Fünfjährigen, von seinem Sportlehrer über fünf lange Jahre immer und immer wieder zugefügt wird. Heute ist James Rhodes – gebürtiger Engländer und in London lebend – ein international anerkannter Pianist, der in ausverkauften Konzertsälen spielt, eine eigene Fernsehshow (piano-man) auf die Beine stellte und mehrere Bücher schrieb.

In dem hier vorliegenden Text beschreibt er die Geschichte seines Missbrauchs und dessen entsetzliche Folgen, mit denen er bis heute immer  wieder kämpft. Vor allem aber beschreibt er seine Selbstrettung, die ihm mithilfe der Musik gelang. Als Achtjähriger findet er zufällig im elterlichen Wohnzimmer eine Musikkassette mit einer Liveaufzeichnung der Chaconne von Bach, er hört sie an, und etwas in ihm wird tief berührt.

„In mir war etwas zerfetzt worden, aber das hier machte es wieder heil. Mühelos und augenblicklich… Und da wusste ich: Mein Leben würde der Musik und dem Klavier geweiht sein. Bedingungslos, mit Freuden und mit dem zweifelhaften Luxus des Keine-Wahl-Habens …“

Dieses Stück, diese Chaconne, wird zu seinem inneren „sicheren Ort“. Und er begreift, dass es etwas Größeres gibt als die Dämonen in ihm. Im Alter von zehn Jahren gelingt es ihm, die „Vergewaltigungsschule“ zu verlassen. Er kommt auf ein Internat in der Provinz. Doch der Missbrauch geht weiter, inzwischen von ihm selbst inszeniert: „Als Zehnjähriger im Urlaub mit einem Typen um die vierzig (mit seiner Familie dort) Richtung Toiletten abziehen, um ihm für eine Eiscreme einen zu blasen und es selbst heute noch nicht als Missbrauch einstufen, weil es schließlich meine Entscheidung gewesen war. Ich nickte ihm zu. Ich ging voraus. Ich wollte ein Eis.“

James Rhodes schämt sich. Er schämt sich bis heute. Scham ist „das Vermächtnis jeden Missbrauchs“, sagt er und sieht in ihr den Grund für das Schweigen, in das er sich (zunächst) – wie die meisten Opfer – flüchtet.

Doch so beschädigt und zerstört er auch sein mag (er nässt ein, entwickelt verschiedene Ticks, ist oft weggetreten, Darm und Wirbelsäule sind durch die jahrelangen Vergewaltigungen schwer beschädigt), so haben ihn diese bitteren Erfahrungen auch Kompetenzen gelehrt: Wie so viele Missbrauchsopfer entwickelt er ein hohes manipulatives Potential. Und so braucht er nur das, was ihm selbst widerfuhr, in aktives Handeln umzusetzen:
„Stellen Sie mich einem Erwachsenen gegenüber und ich weiß nach wenigen Sekunden, was er hören und sehen muss, um sich wohl zu fühlen und mir gewogen zu sein …“ Rhodes versteht es selbst kaum, wie er diese Kindheit überleben und das Internat schaffen konnte. „Ein verängstigter Junge mit null Sozialkompetenz, der unablässig kackte, nicht schlief, Dutzende von Malen pro Stunde zuckte, ununterbrochen in Panik geriet, sich von wildfremden Leuten abschleppen ließ, rauchte und trank – und es trotzdem irgendwie ins Erwachsenenalter geschafft hat …“

Wie war das möglich? „Der Missbrauch macht einen zum Überlebenskünstler“, sagt Rhodes. Denn es scheint so zu sein, dass die unendlichen Demütigungen, die ein Missbrauchsopfer erleiden und erdulden muss, gleichzeitig ungeahnte Kräfte und Potentiale freisetzen. So wie Hölderlin es ausdrückt: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“.

Rhodes, dem – als eine von unzähligen Diagnosen – auch eine dissoziative Identitätsstörung attestiert wird, unterscheidet in seinem Innern dreizehn verschiedene Persönlichkeitsanteile, die „den Laden schmeißen“, er ist das „kaputte abgebrannte Opfer“ ebenso wie der „erfolgreiche Tatmensch“. In ihm findet permanent eine „militärische Operation“ statt, in der sich seine diversen Alter Egos absprechen müssen, was nicht immer gelingt und bisweilen zu schweren Überforderungen führt.

Mehrfach wird er in die Psychiatrie eingewiesen, wenn er dem inneren Druck und Stress nicht mehr standhalten kann. Aber auch wenn es immer wieder bergab geht, so hat er eine große Gewissheit in seinem Innern: seine unabdingbare Liebe zur Musik, zum Klavier, zu Bach, Beethoven und Chopin, die er seine „Dreifaltigkeit“ nennt. Er hat es geschafft, und doch ist er immer wieder in Gefahr. Er weiß das.

Am 25. Oktober dieses Jahres gastierte Rhodes vor ausverkauftem Haus in der Kampnagelfabrik in Hamburg, ein Ort, der ihm mit Sicherheit besser gefällt als die Laeizhalle. Er begann mit dem ebenso wunderbaren wie einfachen – d.h. hier auch: Mut machenden – Präludium in C-Dur von Bach (ich habe es selten so wunderbar spielen hören): „Wenn Sie zehn Finger und nie ein Klavier gesehen haben, können Sie dieses Stück innerhalb von sechs Wochen spielen“, kommentierte Rhodes seine Darbietung. Rhodes will Mut machen. Und er will der klassischen Musik ihren elitären Nimbus nehmen. Er will Menschen dazu ermuntern, ihre schöpferischen Potentiale zu entdecken und sie nutzbar zu machen: für die eigene kreative Entfaltung, für das eigene Glück und für die Bewältigung dessen, was uns Schlimmes im Leben widerfuhr, denn: „Unter dem Schmerz und der Traurigkeit liegt immer Hoffnung und Glück“.      Martina de Ridder

James Rhodes: „Der Klang der Wut. Wie die Musik mich am Leben hielt“, Nagel & Kimche, Berlin 2015, 315 S., 22,90 Euro.