Der große Unterschied: Geschlechtssensible Antidepressiva-Behandlung

Priv.-Doz. Dr. med. Marcel Sieberer hat in Gießen studiert und promoviert. Er ist Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie mit Zusatzbezeichnungen für Suchtmedizin und Geriatrie. Der Ärztliche Direktor des AMEOS Klinikums Hildesheim lehrt als Privatdozent an der Medizinischen Hochschule Hannover und ist seit 2010 Vorstandsmitglied des Instituts für Arzneimittelsicherheit in der Psychiatrie (AMSP). Foto: HilgersPriv.-Doz. Dr. med. Marcel Sieberer hat in Gießen studiert und promoviert. Er ist Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie mit Zusatzbezeichnungen für Suchtmedizin und Geriatrie. Der Ärztliche Direktor des AMEOS Klinikums Hildesheim lehrt als Privatdozent an der Medizinischen Hochschule Hannover und ist seit 2010 Vorstandsmitglied des Instituts für Arzneimittelsicherheit in der Psychiatrie (AMSP). Foto: Hilgers

Männer und Frauen zeigen durchaus unterschiedliche Symptome, wenn sie an Depressionen erkrankt sind, und ihr Körper reagiert teils unterschiedlich auf Psychopharmaka. Aber inwieweit werden sie auch geschlechtsspezifisch, individualisiert behandelt? Das untersuchte Privatdozent Dr. Marcel Sieberer mit Teamkollegen anhand von Deutschlands größter Datenbank zu Psychopharmaka-Verordnungen des Instituts für Arzneimittelsicherheit in der Psychiatrie (AMSP).

Die Projektgruppe der Universitätspsychiatrie Hannover konnte auf Angaben zu Diagnose, Medikation, Dosierung, Alter und Geschlecht von insgesamt 20.000 Patienten mit Depressionen zugreifen, die über einen Zeitraum von zehn Jahren in über 60 Kliniken in Deutschland, Österreich und der Schweiz stationär behandelt wurden. Eine Veröffentlichung der Ergebnisse ist für Herbst diesen Jahres geplant. Vorab sprach der Ärztliche Direktor des AMEOS Klinikums Hildesheim mit dem EPPENDORFER über die Bedeutung einer geschlechtssensiblen Antidepressiva-Behandlung.

EPPENDORFER: Wie kamen Sie auf das Thema?
DR. MARCEL SIEBERER: Ich habe als klinisch tätiger Psychiater tendenziell beobachtet, dass Männer und Frauen in der alltäglichen Praxis teilweise unterschiedliche Antidepressiva-Verordnungen erhalten. Eine Auswertung von Kassendaten aus Österreich hatte tatsächlich auch ergeben, dass Frauen andere, häufig weniger moderne und kostengünstigere Antidepressiva verordnet bekamen. Aus Berechnungen für den Barmer-GEK-Arzneimittelreport von 2012 wiederum – an dem ich als Gastautor beteiligt war – ging hervor, dass Frauen allgemein deutlich häufiger und mit zunehmendem Alter immer mehr Antidepressiva verordnet bekamen. Sie erhielten demnach auch häufiger Benzodiazepine als die männlichen Versicherten. Bei unserer aktuellen Untersuchung klinischer Daten zur Verordnungspraxis in Kliniken zeichnet sich auch ab, dass Frauen im Vergleich zu Männern häufiger Benzodiazepine und außerdem eher Antidepressiva mit einer sedierenden Wirkkomponente erhalten.

EPPENDORFER: Wie ist das zu erklären?
SIEBERER: Die Studie lässt aus methodischen Gründen ja keine Schlussfolgerungen auf die Ursachen zu. Es ist aber vorstellbar, dass Schlafstörungen von Frauen eher thematisiert werden und dass Ängstlichkeit oder Unruhe häufiger Bestandteil der Symptomatik sind.

EPPENDORFER: Im Resümee eines Fachvortrags, in dem Sie bereits auf einige Ergebnisse der genannten Studie eingegangen sind, ist gleichzeitig von nur geringen Unterschieden in der Medikation bei stationär behandelten Patientinnen und Patienten mit Depressionen die Rede. Wie bewerten Sie das?
SIEBERER: Es ist bemerkenswert, dass insgesamt doch nur wenige Unterschiede gemacht werden. Die unterschiedlichen Nebenwirkungsprofile würden mehr Differenzierungen möglich machen und erwarten lassen. Aber die in den vergan- genen Jahren wissenschaftlich zunehmend thematisierten pharmakokinetischen Geschlechterunterschiede finden bisher nahezu keinen Niederschlag in entsprechenden, differenzierten Dosisempfehlungen, bspw. auf Beipackzetteln.

EPPENDORFER: Es scheint erstaunlich, dass der Genderaspekt in diesem Bereich so lange vernachlässigt und offenbar bis heute nicht regelhaft umgesetzt wird. Wie ist das zu erklären?
SIEBERER: In der alten S3-Behandlungs-Leitlinie wurde der Genderaspekt – abgesehen von der besonderen Situation in der Schwangerschaft und Stillzeit – nur in einem Satz zu einer Substanz erwähnt. Aber das Thema rückt immer mehr ins Bewusstsein der Fachöffentlichkeit. Die vor kurzem veröffentlichte aktualisierte Leitlinie für unipolare Depression enthält nun immerhin eine ganze Seite zu dem Thema.
Die pharmakologische Forschung setzt inzwischen auch neuere gesetzliche Vorgaben um, nach denen bereits in sehr frühen Phasen der Entwicklung neuer Medikamente die Besonderheiten weiblicher Organismen und Probandinnen explizit berücksichtigt werden müssen. Das war früher nicht üblich, sondern erschien für die meisten Versuchsbedingungen zu kompliziert, unter anderem wegen schwankender hormoneller Einflussfaktoren durch den weiblichen Zyklus. Für Zulassungsstudien wurden Antidepressiva in der Vergangenheit ausschließlich an jungen, gesunden männlichen Probanden getestet. Aktuelle Studien müssen stärker auch Frauen berücksichtigen, die aber bei Tests bis heute unterrepräsentiert sind.

EPPENDORFER: Wie geht „gendersensibles Verordnen“ – wie verordnen Sie in ihrer Klinik?
SIEBERER: Das Problem ist, dass man sich in der Behandlung schlecht auf wissenschaftliche Kriterien berufen kann, da dafür vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Mängel in der Forschung und bei Zulassungsstudien wesentliche Daten fehlen. Bis heute ist ein geschlechtersensibles Verordnen daher vor allem durch klinische Erfahrungen geleitet. Wir fangen deshalb beispielsweise mit niedrigen Dosierungen an und achten sehr auf das Nebenwirkungsprofil. So wird zum Beispiel Mirtazapin, bei dem Gewichtszunahme als Nebenwirkung besonders auffällig ist, bei Frauen seltener verordnet als bei Männern. Es braucht bewusste, individualisierte therapeutische Entscheidungen, um niedrigere Dosierungen zugunsten besserer Verträglichkeit beizubehalten.

EPPENDORFER: Atypische Neuroleptika sind ja vor einiger Zeit sehr wegen gefährlicher Langzeitwirkungen in die Kritik geraten. Wie steht es um die unerwünschten Wirkungen von Antidepressiva?
SIEBERER: Eine vergleichbare Diskussion bezüglich potentiell irreversibler neurotoxischer Schäden gibt es hier nicht. Im Blickfeld stehen dafür kardiale Nebenwirkungen, wie beispielsweise Herzrhythmusstörungen und eine gerade zu Behandlungsbeginn potentiell erhöhte Suizidgefahr.

EPPENDORFER: Stichwort Hormone. Welche Rolle spielen diese im Zusammenhang mit der Wirkweise von Antidepressiva?
SIEBERER: Bei Frauen mittleren Alters, die bestimmte Wechseljahresbeschwerden wie Schlafstörungen, vermehrtes Schwitzen oder Stimmungsschwankungen angeben, empfehlen wir beim Gynäkologen zunächst eine Untersuchung des „Hormonstatus“, um gegebenenfalls als ersten Schritt eine hormonelle Ersatztherapie einzuleiten.

EPPENDORFER: Was erwarten Sie vor dem Hintergrund Ihrer Untersuchungen für die Zukunft der medikamentösen Depressionsbehandlung?
SIEBERER: Der Aspekt Geschlecht muss bei Behandlung und Diagnostik mehr Berücksichtigung finden – nicht nur beim Zücken des Rezeptblocks. Männer neigen häufiger zu einer begleitenden Suchterkrankung, Frauen dagegen eher zu einer Kombination mit Angststörungen. Allein diese Unterschiede erfordern eine differenzierte Pharmakotherapie. Einige Kliniken haben sogar separate Behandlungskonzepte für Männer mit Depressionen entwickelt.

EPPENDORFER: Stichwort personalisierte Psychopharmakabehandlung: Im vorigen Jahr wurde ein neuer – privat zu zahlender – Gen-Test auf den Markt gebracht, der eine gezieltere Medikation verspricht. Auf Basis des Tests werden personalisierte Wirkstoff- und Dosierungsempfehlungen gegeben, die helfen sollen, erfolglose Therapieversuche zu vermeiden. Was halten Sie davon?
SIEBERER: Das halte ich im Grundsatz für eine gute Idee, da ja tatsächlich viele Patienten nicht gleich auf das erste Medikament ansprechen. Allerdings darf es nicht zu einem falschen Fortschrittsglauben führen. Am wichtigsten ist es weiterhin, dass wir unseren Patienten sehr gut und differenziert zuhören. Das droht leider auch in der Psychiatrie im Zuge einer Zunahme apparativer Diagnostik – etwa durch Bildgebung oder Laborleistungen – zunehmend verloren zu gehen. Ich setze den Test bisher nicht ein, da noch unklar ist, ob er das hält, was er verspricht. Eventuell ist ein solcher Test für Einzelfälle zu diskutieren. Etabliert sind hingegen – vor dem Hintergrund individuell verschiedener Verstoffwechselung von Substanzen – Messungen des Medikamentenspiegels im Blut.

EPPENDORFER: Sie sind jetzt seit gut einem Jahr in Hildesheim tätig. Jetzt hat das Magazin FOCUS das AMEOS Klinikum Hildesheim mit den FOCUS-Siegeln TOP-Nationales Krankenhaus Depression und TOP-Regionales Krankenhaus Niedersachsen ausgezeichnet und dem Klinikum damit einen hohen Behandlungs- standard sowie eine überdurchschnittliche fachliche Reputation im Zusammenhang mit Depressionsbehandlung bescheinigt. Hat das mit Ihnen zu tun?
SIEBERER: Hildesheim hat eine sehr gute Tradition für differenzierte Depressionsbehandlungskonzepte, wobei sowohl tiefenpsychologisch als auch verhaltenstherapeutisch gearbeitet wird. Es gibt neben einer „Depressionsstation“ mehrere spezialisierte Psychotherapiestationen, ein methodenspezifisches tagesklinisches Konzept für depressive Patientinnen und Patienten, und wir planen ein noch besseres Angebot auch für ältere Menschen mit Depressionen. Als Vorstandsmitglied des „Bündnis gegen Depression e.V.“ in Hildesheim bin ich mit der Klinik zudem an einer Reihe von Veranstaltungen und Aktionen rund um das Thema Depression beteiligt, wie zum Beispiel dem jährlichen „Solidaritätslauf“. Anke Hinrichs