Schweigende Lämmer

Wir sind fähig zum Mitleid – und wir sind zugleich bereit, zur Erfüllung trivialster Konsumbedürfnisse Kindersklaverei zu dulden. Warum schweigen „die Lämmer“ statt dass wir wirkliche Veränderungen vorantreiben, die Leiden beenden? Und warum lassen wir uns so leicht manipulieren? Fragen, die offenbar auf den Nägeln brennen: Der von vier Veranstaltern* organisierte Vortrag zu diesem Thema von Prof. Rainer Mausfeld lockte hunderte Zuhörer in den komplett überfüllten Hörsaal der Hochschule für Wirtschaft und Politik, viele mussten draußen bleiben.

HAMBURG. Warum schweigen die Lämmer? Warum wehren die Menschen sich nicht? Mausfeld, Psychologe und Kognitionswissenschaftler, eröffnete seinen Vortrag, indem er zwei Themen benannte: 1. Die Analyse von Struktur und Funktion der Machtverhältnisse, 2. Der Blick auf uns. Warum tun wir uns so schwer? Welches sind die Schwachstellen unseres Geistes, die die Mächtigen ausnutzen können? Und welches sind die Spezifika unseres Geistes, die sich zur Manipulation nutzen lassen? Der Fokus, so Mausfeld, solle heute abend auf dem zweiten Punkt, also dem Blick auf uns liegen.

Doch zunächst griff er weit zurück. Bis in die Antike, in der schon das Charakteristikum des Humanen benannt wurde: das Mitleid. Im 17. Jahrhundert konstatierte Spinoza: „Wer keine Hilfe leistet (aus Vernunft oder Mitleid) wird mit Recht ,Unmensch’ genannt“ (Ethik, 1677, 4. Teil, Lehrsatz 50). Und Martin Luther King prophezeite in den Sechzigern: „Wir werden nicht so sehr die Untaten böser Menschen zu beklagen haben, sondern das erschreckende Schweigen der guten.“ Das Schweigen zur systematischen Zerstörung unserer ökologischen Lebensgrundlagen. Das Schweigen zur wachsenden Gefahr eines Atomkrieges, die so groß ist wie nie. Das Schweigen zur gigantischen Zerstörung mühsam erzwungener zivilisatorischer Substanz und vieles mehr.

„Es steht alles jeden Tag in der Zeitung“, sagte Mausfeld. „40 Millionen Sklaven, 20 Millionen Menschen, die vom Hungertod bedroht sind. Und selbst der Papst sagt: Diese Wirtschaft tötet.“ Und weiter: „Das müsste uns mit der Mistgabel auf die Straße treiben.“ Wieder ein Rückgriff. Diesmal ins 19. Jahrhundert, in dem John Stuart Mill, britischer Philosoph und Ökonom, schrieb: „Die vorherrschende Gleichgültigkeit der Massen ist einer der wichtigsten politischen Faktoren in den heutigen westlichen Ländern.“ „Sie werden all dem sicher zustimmen,“ sagte Mausfeld. „Außer, dass Sie denken werden: Ja, so ist es, aber ich, ich bin nicht so. Ich bin nicht gleichgültig. Ich habe ein soziales Gewissen. Ich informiere mich. Ich habe einen moralischen Kompass.“

Und noch ein Rückgriff. Adam Smith, Ökonom und Moralphilosoph des 17. Jahrhunderts, begründete die Ökonomie und entwarf eine Theorie der moralischen Gefühle: Wir sind moralische Wesen. Wir sind fähig und bereit zum Mitleid. Aber wie lässt es sich dann erklären, dass wir bereit sind, zur Erfüllung trivialster Konsumbedürfnisse Kindersklaverei zu dulden? (s. die Produktion von Millionen Smartphones, die weitestgehend durch Kinderarbeit hergestellt werden).

Schon Platon stellte die Frage: Warum handeln wir so oft gegen unsere Einsichten? Hierzu müssen wir die Architektur unserer Seele verstehen. Nach Platon teilt sich diese in drei Komponenten: die Vernunftseele (in ihr findet das Denken statt), die Affektseele (in ihr sind unsere Gefühle untergebracht) und die Triebseele (der Wunsch nach Nahrung, Schlaf und Sex). Die Einzelinstrumente unseres Geistes sind – so Mausfeld – gegen Introspektion (also in uns selbst hineinsehende) Einblicke abgeschottet. Oberstes Ziel ist immer die Stabilisierung unseres Selbstwertes als Voraussetzung der Sicherung unserer Identität. Hierzu bedarf es einer internen Organisation unserer sozialen Welt, die sich sowohl auf einer horizontalen Ebene (ingroup/outgroup) als auch auf einer vertikalen Ebene (der sozialen Rangordnung) vollzieht.

Wir wollen uns identifizieren mit einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe, wir brauchen ein Gefühl von Zugehörigkeit, und um diese Erfahrung zu machen, müssen wir uns von anderen Gruppen abgrenzen. Auf der vertikalen Ebene der Rangordnung geben wir uns einen bestimmten Platz bzw. bekommen einen solchen zugewiesen, aber egal wo wir positioniert sind: Wir schauen zu den Mächtigen, wir bewundern sie und wir suchen ihre Anerkennung. Und was unsere Fähigkeit zur Empathie betrifft, so ist diese – hier zitierte Mausfeld Kohut – „ein neutrales Instrument unseres Geistes“ und nicht zu verwechseln mit wirklichem Mitgefühl und Mitleid („Man kann kein guter Folterer sein ohne Empathie“).

Wie aber kommt es, dass unser Mitgefühl für das Leiden des anderen sich nicht umsetzt in Handlungen, die auf Veränderung im Sinne von wirklicher (Verteilungs)gerechtigkeit gerichtet sind? Mausfeld nannte drei Argumente: – Wir haben eine Neigung, den Status quo allen anderen Alternativen vorzuziehen (fast im Sinne einer Art von ängstlicher Besitzstandswahrung und Veränderungsresistenz: Wenn ich etwas verändere, weiß ich nicht, was kommt…); – Wir haben eine Tendenz, den Opfern selbst die Schuld zu geben (irgendwie haben sie sich doch auch selbst in diese Situation gebracht…). Und wir glauben, wir seien oben, weil wir es doch irgendwie verdient haben…

Hier wurde es einigen Zuhörern zu viel: „Könnten Sie mal das „wir“ Ihrer Rede präzisieren ?“ oder: „Es gibt hier Leute, die sind seit Jahren politisch aktiv oder seit Jahrzehnten in der Friedensbewegung…“. Mausfeld konterte sehr ruhig: „Man muss erst mal den Stachel benennen. Es soll erst mal weh tun. Wenn es nicht weh tut, erreicht es uns nicht.“ Und kehrte zurück zu der Frage: „Warum tun wir uns so schwer, uns mit den Zentren der Macht anzulegen?“ Antwort: Wir wollen die Mächtigen als uns sichernde Instanz nicht aufgeben und trotzdem zu den „Guten“ gehören. Dies gelingt uns, indem wir an der Oberfläche bleiben: Wir kämpfen gegen Krieg, aber nicht gegen die Ursachen von Krieg. Auf diese Weise halten wir ein positives Selbstbild aufrecht. Wir sind die Guten und geraten nicht in Konflikt mit der Macht. Dissens und Protest sind gewünscht als Revolutionsprophylaxe. Es darf ihn geben, den Protest, aber er muss letztendlich unwirksam bleiben und darf nicht auf die Zentren der Macht zielen.

Zum Ende seiner bitteren Analyse zog Rainer Mausfeld ein fast ebenso bitteres Fazit: „Ich bin genauso hilflos wie Sie. Der Mensch ist süchtig nach Hoffnung. Er kann und will die Wahrheit nicht aushalten. Aber nicht im empathischen Geturtel mit den Mächtigen werden wir Erfolge haben.“ Ja, womit denn dann? Diese Frage blieb letztendlich offen. Aber an den Resonanzen und der Stimmung im Auditorium war deutlich abzulesen, dass Rainer Mausfeld mit seiner deprimierenden Analyse die Zuhörenden erreicht hat.                     Martina de Ridder

* DPG (Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft), das John-Rittmeister-Institut Kiel, die IPPNW-Gruppen von Hamburg und Kiel (Internationale Ärzte für die Verhütung eines Atomkrieges) sowie der ASTA der Universität Hamburg.