2000 MRV-Patienten vor Entlassung?

Die Novellierung des Unterbringungsrechts nach Paragraph 63 Strafgesetzbuch (StGB) und die darin vorgesehene Stärkung des Verhältnismäßigkeits-Grundsatzes zum 1. August hat nicht nur Folgen für den Maßregelvollzug (MRV), sondern insbesondere auch für die Allgemeinpsychiatrie. Chefarzt Dr. Guntram Knecht vom Asklepios Klinikum Nord Ochsenzoll (KNO) rechnet damit, dass rund 2000 der derzeit mehr als 10.000 Forensikpatienten in Deutschland in nächster Zeit entlassen werden. Menschen, die aufgefangen und wiedereingegliedert werden müssen. Die aktuellen Herausforderungen vor dem Hintergrund der Gesetzesänderung waren Thema einer Fortbildungsveranstaltung „Forensische Gespräche“ im Hamburger Hotel Radisson.

 

HAMBURG. Ein Hintergrund der Gesetzesänderung sind die teils sehr langen Unterbringungszeiten. Dahinter verbergen sich auch Grenzen des Systems, etwa wenn Behandlungsverweigerung nicht akzeptiert, sondern mit Vollzug so lange sanktioniert wird, bis der Patient aus allen Bezügen herausgefallen ist, wie die Berliner Psychiaterin und Psychologin Ute Hermann an einem Beispiel zeigte.

Sie skizzierte das Leben von Thorsten B., ein Punk und Schulverweigerer mit nur sporadischem Familienkontakt, der früh obdachlos lebte und der es sich zur Lebensphilosophie gemacht hatte, Punk zu sein und Drogen zu nehmen. Wegen einer bipolaren Störung mit schizoaffektiver Psychose kam er mehrfach in die Psychiatrie, setzte aber Medikamente immer wieder ab. Eigentlich „kein gewaltbereiter Mensch“, sei er in den Vollzug gekommen, weil er sich nach eigener Darstellung selbst verteidigt habe, wodurch ein Mensch verletzt wurde. Weil er stets an Lockerungsstufen scheiterte (Drogenkonsum, Anpassungsverweigerung) wurde er letztlich erst 2015 entlassen – in die Obdachlosigkeit. Überfordert und sozial isoliert, denn den Kontakt zur Punkszene hatte er durch die lange Klinikzeit verloren.

Manch’ einem der Langzeit-Forensikpatienten, die jetzt wegen der Gesetzesänderung entlassen werden, mag es ähnlich gehen. Neben einer gesehenen Unverhältnismäßigkeit wird mit der Novellierung einer seit langem kritisierten Entwicklung entgegengewirkt: Seit vielen Jahren wird beklagt, dass die Bettenzahlen im Maßregelvollzug sukzessive angestiegen sind, während in der Allgemeinpsychiatrie Kapazitäten abgebaut wurden, wodurch sich offenbar Lücken auftaten. Angewachsen ist in der forensischen Psychiatrie insbesondere der Anteil schizophren erkrankter Menschen. In Berlin seien Ende 2011 von 572 nach Paragraph 63 untergebrachten Patienten 412 an Störungen aus dem schizophrenen Formenkreis erkrankt gewesen, so Ute Hermann. 214 seien begleitend auch noch suchtkrank gewesen. Die Zahl habe sich seit Ende 2001 (193) mehr als verdoppelt, während die Zahl der Menschen mit Persönlichkeitsstörungen eher gesunken sei. 75 Prozent der Maßregelpatienten seien vorher in der Allgemeinpsychiatrie gewesen, über 50 Prozent davon per Zwang eingewiesen. 28 Prozent wurden in die forensische Psychiatrie eingewiesen, weil sie während einer allgemeinpsychiatrischen Behandlung ein Delikt begingen. Hermann bezeichnete es als „Skandal“, „dass die Einsicht in eigene Krankheit und Hilfebedürftigkeit“ Voraussetzung für psychiatrische Hilfe sei.

In Berlin mit dem mit 700 Plätzen größten Maßregelvollzug Deutschlands setze man für die Zukunft auf Behandlungspfade und -algorithmen. Als gelungenes Beispiel einer frühzeitigen Aus- gliederung von Maßregelpatienten stellte sie die Betreuten Wohnprojekte der privatwirtschaftlichen Gesellschaft für soziales und betreutes Wohnen (GsbW) vor (darunter eines nur für Frauen), gegen das die Anwohner zwei Jahre lang Sturm gelaufen seien. Hier werden die Patienten unter anderem mittels motivierender Gesprächsführung für ein Leben in Freiheit trainiert.

Viele Zahlen zur Unterbringungsdauer nannte Dr. Guntram Knecht im Rahmen seines Vortrags zur neuen Gesetzgebung. Im bundesdeutschen Schnitt seien Maßregelpatienten 8,7 Jahre untergebracht. Auf Platz 1 liegt Schleswig-Holstein mit 10,7 Jahren – am anderen Ende liegen Hamburg und Hessen mit 6,8 Jahren. Die Pflegesätze pro Tag bewegen sich zwischen 209 in Berlin, 257 in Schleswig-Holstein und 293 in Hamburg.

Zwischen 1990 und 2011 habe sich die bundesdurchschnittliche Unterbringungsdauer von vier auf acht Jahre verlängert, die Anzahl der Untergebrachten stieg in der Zeit um das 2,5 fache, entsprechend wuchsen auch die Kosten an. Der neue Paragraph 63 beinhalte höhere Eingangsschwellen und eine erniedrigte Entlass-Schwelle. Eine Unterbringung länger als sechs Jahre gelte künftig nicht mehr als verhältnismäßig, wenn nicht die Gefahr erheblicher Straftaten und schwerer Schädigungen gesehen werde.

Aktuell seien ein Drittel der Patienten bereits länger als zehn Jahre im MRV, 20 Prozent länger als sechs Jahre. Auch hier klaffen die Zahlen im Ländervergleich stark auseinander: In Schleswig-Holstein seien 36 Prozent länger als zehn und rund 15 Prozent 6-10 Jahre untergebracht. In Hamburg und Hessen liege der Anteil der zehn Jahre untergebrachten bei nur rund 17 bzw. 21 Prozent .

Knecht machte deutlich, dass bei den zu erwartenden Entlassungspatienten künftig kein Widerruf möglich sei, womit die bei bisherigen Entlassungen mögliche Sanktionsmöglichkeit bei Verstößen gegen Weisungen und auch die Möglichkeit von dreimonatigen Kriseninterventionen entfalle. Ferner warb er für die Nutzung der forensischen Ambulanz in Ochsenzoll – auch als Prävention und durch gemeindepsychiatrische Einrichtungen. „Wir können Risikopatienten identifizieren und sagen, was sie brauchen“, so Knecht. Und: „Wenn der Patient nicht kommt, gehen wir zum Patienten“. Problem bei postforensischen Patienten sei: „Wir bekommen sie oft nicht platziert“. Knecht sprach von Problemen, die psychosoziale Nachsorgekette nur partiell zu erreichen und einem „unzureichenden Problembewusstsein für psychosoziale Kontrollen in der Nachsorgekette“. Anke Hinrichs